Der multiple Roman (German Edition)
Individuum erfinden und sich von den herkömmlichen Vorstellungen von Familie, von Müttern und Vätern unabhängig machen: Das ist eine von Sternes eindrücklichsten Lektionen. Eine weitere ist nicht weniger unkonventionell. Um einen wahren Roman zu schreiben, muss der Schriftsteller die Perspektive des Unendlichen annehmen.
Diese Perspektive findet sich auch bei Sternes literarischen Vorgängnern wie Cervantes, Rabelais, Montaigne und auch in Burtons
Anatomy of Melancholy
(
Anatomie der Melancholie
). Burtons Buch ist eine gigantische Übung darin, alle menschlichen Emotionen kleinzureden. Denn Burton fand, dass wir unsere Traurigkeit viel zu ernst nehmen. Er tat das nicht. Seine besorgt anmutenden Versuche, Trost zu spenden, sind eigentlich Zurückweisungen – wie zum Beispiel seine gütige Verfügung, man solle sich, wenn man um einen verstorbenen Freund trauere, an alle zerstörten Städte dieser Welt erinnern. In dieser unendlichen Perspektive steckt ein absoluter Nihilismus. Menschlich gesehen ist Burtons Vorschlag skandalös. [31] Und auf dieselbe Weise vermag es auch der Roman als Genre, unsere romantischen Ideen in aller Seelenruhe auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Nichts ist wirklich katastrophal; und auf der anderen Seite ist auch kein Verlangen wirklich so groß, wie es sich anfühlt. Es ist nur so, dass unsere unendliche Seele in solchen kleinen Neurosen zum Vorschein kommt. Wie zum Beispiel im Fall von Stendhal, der zu Beginn seines
Leben des Henry Brulard
schreibt –
als ich auf dem einsamen Weg oberhalb des Albanersees über mein Leben nachsann – fand ich, daß mein Leben in den folgenden Namen zusammengefaßt werden kann, deren Initialen ich, wie Zadig, mit meinem Stock in den Staub schrieb …:
Virginie (Kubly),
Angela (Pietragrua),
Adèle (Rebuffel),
Mélanie (Guilbert),
Mina (de Griesheim),
Alexandrine (Petit),
Angéline, die ich nie geliebt habe,
Métilde (Dembowski),
Clémentine,
Giulia,
Und schließlich, einen Monat oder länger, Madame Azur, deren Taufnamen ich vergessen habe,
und törichterweise gestern Amalia (Bettini).
Die meisten dieser reizenden Wesen haben mich nicht mit ihrer Gunst beehrt; aber sie haben buchstäblich mein ganzes Leben ausgefüllt. [209]
Auf diese Weise denkt Stendhal darüber nach, welche Rolle die Leidenschaft in seinem Leben eingenommen hat – über jene Spur, die der Gott Priapos in seinem Leben hinterließ. Ich liebe diesen Moment, denn er bleibt den komischen Proportionen des wirklichen Lebens treu: Diese Kunst übernahm Stendhal von Sterne, was schon in der traurigen Komik dieser Passage erkennbar gewesen wäre, selbst wenn er an späterer Stelle nicht selbst auf diesen Einfluss hinweisen würde: »Ich werde nun zum Leben erwachen, wie Tristram Shandy sagt, und der Leser wird von den Kindereien befreit sein.« [210]
Aber ich denke nicht, dass es letztendlich ein Schriftsteller war, der das Verhältnis zwischen dem Komischen und der Unendlichkeit am genauesten beschrieben hat. Das tat stattdessen ein Dichter der Romantik.
In Coleridges »Notes on Humour«, in denen er auch über Sterne nachdenkt, beschreibt er Humor auf geniale Weise: »Humor ist eine gewisse Anspielung auf das Allgemeine und Universelle, wodurch das begrenzte Große mit dem Kleinen identifiziert wird, oder das Kleine mit dem begrenzten Großen, so dass beides im Vergleich mit der Unendlichkeit vollkommen nichtig erscheint. Das Kleine wird groß gemacht und das Große klein, mit dem Ziel, beide zu zerstören; denn im Vergleich mit der Unendlichkeit ist alles gleich.« [211] Und somit, fügte Coleridge hinzu, handelte es sich bei Humor um eine Funktion der Unverhältnismäßigkeiten: »Immer dann, wenn etwas Begrenztes im Zusammenhang der Unendlichkeit bedacht wird, ob bewusst oder unbewusst, entsteht so etwas, wie das Wesen des Humors.« Weshalb die Autoren von komischen Texten, so Coleridge, »und besonders Sterne, ein großes Vergnügen daran finden, nach umständlichen Vorbereitungen im Nichts zu enden, oder in einem unmittelbaren Widerspruch.« [212] Und auf besondere Weise bündelt die Begrenzung ein kleines Abbild seiner Natur in jedem Steckenpferd, »denn man kann sich keinen Menschen denken«, schreibt Coleridge, »der seinem Steckenpferd keine unverhältnismäßige Allgemeingültigkeit einräumt, so wie im Falle von Mr Shandy; oder zumindest fehlt jegliches Interesse außer dem, das aus dem Humor selbst hervorgeht, wie im Falle von Onkel
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