Der multiple Roman (German Edition)
daß es viele Jahre im Leben meines Vaters dessen stehende Redensart war – er brauchte nie das Wort
Leidenschaften
– sondern sagte statt dessen allemal
Esel
…« [203]
Dieses Konzept des Steckenpferdes ist der Ausgangspunkt von allen Experimenten, die Sterne mit seinen Figuren anstellt.
3
Weil wir alle ausschließlich Reproduktionsmaschinen sind, neigen wir insgesamt zu Wiederholungen. An unserem eigenen Punkt in der Geschichte der Welt nennen wir diese Wiederholungen gerne
Neurosen
. Sternes verniedlichenderes, auf zersetzende Weise infantiles Wort dafür war
Steckenpferd
. Ein Steckenpferd war nicht mit dem Selbst einer Person identisch: Aber es ist das, was ein Selbst einzigartig macht. Und dieses Konzept des Steckenpferdes enthält eine weitere Erniedrigung des menschlichen Tiers: weil in einer wüsten Umkehrung das Steckenpferd das Selbst reitet, und nicht andersherum – eine Umkehrung, die auf komische Weise die Tatsache verkörpert, dass niemand die volle Kontrolle über sich selbst hat. Sobald sich ein Steckenpferd einmal entwickelt hat, ist es allmächtig: »gegen Steckenpferde gibt’s keine Einwände«. [204]
So prägt Sterne sein eigenes Vokabular der Leidenschaften. Die Leidenschaften sind ein Esel, weil sie stur und hartnäckig im Umgang sind: denn »Gibt sich ein Mann dem Walten einer beherrschenden Leidenschaft preis, – oder anders gesagt, führt ihn sein STECKENPFERD über Stock und Block, – dann adieu kühle Vernunft und brave Besonnenheit!« [205] Ja, Leidenschaften sind überall, und trotzdem werden sie so selten als Leidenschaften wahrgenommen. Stattdessen erlauben die Mechanismen der Assoziation und der Substitution den Begierden zu fließen, wohin sie wollen. Und die berühmteste ihrer Neuerfindungen ist, wie Begierden durch die Figur des Onkels Toby verkörpert werden. Bei der Belagerung von Namur durch einen Hieb verwundet, der »auf meines Onkel
Toby
’s Schamleiste schlug« [206] , versucht der bettlägerige Soldat seitdem zwanghaft zu erklären, wie genau er sich seine entmannende Wunde zugezogen hat. Aber bei diesem Versuch stellt sich ihm ein sprachliches Problem: »Die mannigfachen Verlegenheiten, in denen er stak, erwuchsen aus den schier unübersteiglichen Schwierigkeiten, die es ihm bereitete, seine Geschichte faßlich vorzutragen und so klare Begriffe zu geben von den Unterschieden und Unterscheidungen zwischen der Escarpe und Contreescarpe, – dem Glacis und bedeckten Weg, – dem Halbmond und Ravelin, – um es seiner Gesellschaft gänzlich einsichtig zu machen, just wo und wobei er sich aufhielt.« [207] Seine Lösung dieses Problems ist es, seine Schlacht immer wieder zu rekonstruieren, was ihm so viel Vergnügen bereitet, dass er auf den Ländereien um Shandy Hall die verschiedenen Belagerungen nachspielt, über die in den Zeitungen berichtet worden war. Und so entsteht sein Steckenpferd. Was bedeutet, dass er sein Leben jetzt dem Nachspielen von Schlachten widmet. Aber es bedeutet darüber hinaus auch etwas, das in der Ökonomie eines Romans noch wichtiger ist. Ein Steckenpferd kontrolliert einen Geist auf so vollständige Weise, dass es jegliche Form von Interpretation limitiert. Das Selbst kann nur dann durch die Wirklichkeit angeregt werden, wenn dies in Verbindung mit seinem Steckenpferd geschieht. Das ist der Grund, warum alles in diesem Roman – genau wie im Leben – so traurig ist und warum alles gleichzeitig ein gewisses komisches Potential hat. Wie in dem berühmten Moment, wenn die Witwe Wadman genau wissen will, wo in der Leistengegend Toby verletzt wurde, bevor sie ihn heiratet. Onkel Toby hält dies für ein ihm willkommenes Interesse an militärischen Dingen. Er denkt an seine Karte. »– Ihr sollt mir den Finger auf die Stelle tun – sagte mein Onkel Toby. – Anfassen will ich’s doch aber nicht, sprach Mrs Wadman bei sich.« [208] Denn die Witwe Wadman ist an einem ganz anderen Ort interessiert.
Das Selbst existiert nicht; das ist Sternes wichtigste Erkenntnis. Und die zweitwichtigste ist noch trostloser: Existierte es doch, wäre es in ein System der Wiederholungen eingeschlossen, dessen wahrer Autor ein Trauma wäre. Noch trauriger ist, dass ein Trauma immer etwas Komisches hat. Denn schließlich gibt es so etwas wie eine grandiose Neurose nicht.
4
Ich möchte bei dem Wort
grandios
verweilen.
Um einen akkuraten Roman über unsere universellen und komischen Traumata zu schreiben, muss man sich als rein sprachliches
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