Der multiple Roman (German Edition)
Toby«, und »es ist die Vorstellung von der Seele, von ihrem unbestimmten Fassungsvermögen und ihrer Würde«, schließt Coleridge, »die der Stachel in jeder Aufnahme der Seele durch eine einzige Beschäftigung ist …« [213]
Jedes Steckenpferd hält sich für unbegrenzt. Es hält sich für ein Selbst. Aber da hat das Steckenpferd leider unrecht.
Ich frage mich daher, ob der Traum des Schriftstellers, der versucht, sich selbst aus dem Nichts zu erschaffen, ein Traum ist, der versucht, die Wahrheit auszublenden. Jeder ist ein Steckenpferd, aber wenn man noch andere Steckenpferde erfinden kann, ist es einem in diesem Moment des Rückzugs vielleicht möglich, wirklich frei zu sein. Man kann seinen eigenen Geburtstag erfinden. Vielleicht ist das die geheime Phantasie des Schriftstellers, ein Ich zu schaffen, das kein Ich ist … Aber nein: Ich bin viel zu schnell vorangeprescht.
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Auf unserer Erde scheint dieses traurige Thema natürlich kaum etwas Lustiges zu haben. »Was ist des Menschen Leben! Schwankt’s mit uns nicht immer hin und her? – von Sorge zu Sorge? – das eine Sorgenloch gestopft! – und das nächste tut sich auf!« [214] Es mag einem natürlich vorkommen, solch einen tragischen Ton an den Tag zu legen, wenn das Leben nichts als eine Abfolge von Pannen zu sein scheint. Vielleicht sollte ein Autor ernsthaft auf die Beschwernisse der Welt reagieren. Aber Sternes Roman ist das Gegenteil der Ernsthaftigkeit. Sein heimlicher Held ist Pfarrer Yorick, der »einen unüberwindlichen Widerwillen und Abscheu gegen die Gravität« hegt: »das eigentliche Wesen der Gravität hingegen sei Vorsätzlichkeit und ergo Betrug; – – – sie wär’ ein einstudierter Streich, um der Welt verständiger und klüger zu dünken, als man eigentlich sei.« [215]
Sternes Ernst ist das, was Milan Kundera als Kitsch bezeichnete, und Nabokov als »Poshlost«. Man kann es auch Schmalz nennen. Das Gegenteil von Kitsch ist die Komödie, die Arabeske oder der Schnörkel. Es ist das absolute Interesse an der Form.
Und das ernsthafteste Thema von allen ist Sex, der ganze Zirkus der Empfängnis. Leidenschaften sind das universellste Steckenpferd. Sie sind das Phänomen, in dem der Wirrwarr aus Körper und Seele, die Katastrophe des Selbst, an jedem Tag neu erkennbar wird. [32] Wie kann man es bestreiten? Tristram hatte schon in seiner Abhandlung über Knöpfe auf diese Quelle von Kummer angedeutet, indem er verschämt auf die Stelle anspielte, an der wir uns am häufigsten auf- und zuknöpfen. Und Mr Shandy selbst ist sich dieses Problems nur allzu bewusst: Es »ist keine Leidenschaft so ernst als wie die Wollust«. Diese Bemerkung macht er, als er seinen Bruder Toby bei seinem Versuch, die Witwe Wadman zu erobern, berät:
doch in den Rabelais oder Scarron oder Don Quixote, da laß sie keinen Blick tun –
– – Das sind nämlich allesamt Bücher, die zum Lachen reizen; und wie du weißt, lieber Toby, ist keine Leidenschaft so ernst als wie die Wollust. [216]
Die eine Sache, die der arme Mr Shandy mit Tristram gemein hat, der die Liebe mit vorsichtiger Genauigkeit definiert, ist »die sanfte Leidenschaft, die im Scherz anhebt, – aber im nackten Ernst endigt«. [217] Nein, es gibt keine Leidenschaft, die so ernsthaft ist, wie die Lust. Oder anders gesagt: Das wahre Subjekt der Komik ist das Begehren. Es ist deshalb nur richtig, dass sich Mr Shandy gegen das Lesen von Romanen ausspricht, gegen Rabelais und Cervantes. Der Roman ist die Form, in der Begehren zerstäubt wird, und so zum Inhalt von Komödien wird. Denn wir sind schließlich nur proportional zum Verlust unseres Sinns für Humor lustig. Und niemand hat weniger Humor als jemand, der verliebt ist.
Was nur sagen will, dass alles Komische dem Selbst feindlich gegenüber steht. Der Roman ist ein Feind des herkömmlichen Zeugungsaktes. Stattdessen wird Sterne, der Autor, durch seinen Wortapparat zu seinem eigenen Erzeuger, und zu seinem eigenen Zeugnis.
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Aber es ist schwer, sich selbst zu erfinden. Und die Selbstbefreiung durch die Kunstform des Romans ist eine besonders schwierige Angelegenheit. Das erste Problem ist die Sprache. Das zweite Problem ist der abwesende Leser. Aber ich denke, dass diese beiden Probleme in Wirklichkeit nur Aspekte eines anderen Problems sind: des alten Problems des Steckenpferdes. Schließlich gleicht ein Leser einer Figur: Beide sind Datenverarbeitungsanlagen, die nichts an ihrer Verkabelung ändern können.
Also erfindet
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