Der multiple Roman (German Edition)
Leser einzubeziehen, ist nicht die einzige Technik, die Sterne zur Unterbrechung des Erzählflusses anwendet. Seine vielen anderen Methoden – seine Diagramme und Schnörkel, seine fehlenden Kapitel und
&c
– sind berühmt. Was mich vor allem interessiert ist die enge Verbindung zwischen diesen Störungen der normalen Erzählstruktur und dem Konzept des Steckenpferdes. Die Unterbrechungen sind Teil von Sternes Bemühungen, eine gewisse Freiheit von seinem Leser beizubehalten: seinem Versuch der Selbst-Erzeugung. Meistens unterbricht Sternes System den Leser durch das von ihm angewandte Prinzip der Umkehrung. B kommt in seinem Roman immer vor A. Später im Roman erklärt Mr Shandy Onkel Toby die Bedeutung des rhetorischen Begriffs »Hypallage«: Das ist, sagt er, als sei der Wagen vor dem Pferd. Die Hypallage ist die Umkehrung der natürlichen Verhältnisse zwischen zwei Elementen in einer Aussage: Am häufigsten kommt sie in Form eines auf ungewohnte Weise bezogenen Beiwortes vor. Dieser technische Moment im Roman gibt etwas Aufschluss über das Wesen von Sternes System. Unter diesen Stern gestellt, dehnt sich sein Stil aus. Es ist ein manisches System der Umkehrungen, wo eine Widmung nicht am Anfang steht und auch ein Vorwort nicht. Die Ursachen folgen den Wirkungen. Und so erweisen sich die Annahmen der Leser ständig, und auf ewig, als falsch: als reine Fabrikate ihrer individuellen Steckenpferde.
Im revolutionären zwanzigsten Jahrhundert wurden noch andere Versuche angestellt, um den zartfühlenden Leser zu stören, den sich gemütlich zurücklehnenden Zuschauer. Da war beispielsweise Brecht, der in Berlin die Technik des epischen Theaters erfand, und seine Verfremdungseffekte, die dazu führten, dass sein Publikum ständig daran erinnert wurde, dass dies nur ein Theaterstück sei. Brecht zufolge sollte seine Methode dem Zuschauer dabei assistieren, das Netzwerk von Verbindung zu erkennen, »das sich hinter den Geschehnissen verbirgt, denn was auch geschehen mag, es liegt immer eine Wirklichkeit hinter jener, die beschrieben wird«. [228] Und diese Fähigkeit, behauptete er, konnte nur durch diese spezielle Methode aufgedeckt werden, die auf »Wirrungen« und »Sprüngen« beruhte. Ich liebe diese zwei Wörter: Ich liebe vor allem Brechts Idee, die Wirklichkeit könne am besten durch eine scheinbare Ablenkung, durch eine plötzliche Bewegung, bloßgelegt werden. Seine metafiktionale Technik ist, wie auch die von Sterne, räuberisch. Walter Benjamin schreibt über diese »epische« Form: Das epische Theater »hat nicht so sehr Handlungen zu entwickeln, als Zustände darzustellen«. Weiter schreibt Benjamin, »Darstellung ist aber hier nicht Wiedergabe im Sinne der naturalistischen Theoretiker. Es handelt sich vielmehr vor allem darum, die Zustände erst einmal zu entdecken. (Man könnte ebensowohl sagen: sie zu verfremden.) Diese Entdeckung (Verfremdung) von Zuständen vollzieht sich mittels der Unterbrechung von Abläufen.« [229]
Allerdings bin ich mir nicht so sicher, ob es so etwas wie Metafiktion überhaupt gibt: nicht wirklich. Wenn man sich einmal im Bereich der Fiktion befindet, kann man ihn nicht mehr wirklich verlassen. In Moskau sagte der revolutionäre Kritiker Viktor Sklovskij über
Tristram Shandy
sehr geistreich: »Überhaupt lenkt er die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Komposition des Werks; eben diese Hervorhebung der Form durch deren Zerstörung bildet den Inhalt des Romans.« [230] Aber tatsächlich geht der Inhalt viel tiefer, ist zu einem viel höheren Grad Teil des seltsamen Antriebssystems dieses Romans: Die Unterbrechungen sind dazu da, um dem Leser zu zeigen, wie komisch wir sind, in jenen Momenten, in den wir meinen, etwas zu wissen. Die Unterbrechungen geben dem Roman eine gewisse Melancholie.
8
Als Beispiel für diesen Vorgang kann ich etwa den Moment heraufbeschwören, als Mr Shandy Onkel Toby sein Leid klagt, nachdem er von dem Tod seines Sohnes Bobby erfahren hat.
»Bei meiner Rückreise aus
Asien
, da ich von
Aegina
nach
Megara
segelte«
(wann mag das wohl gewesen sein? dachte mein Onkel Toby)
, »begann ich das Land ringsumher zu betrachten.
Aegina
lag hinter mir,
Megara
vor mir,
Pyräus
zu meiner Rechten,
Korinth
zur Linken. – Was für blühende Städte, die jetzt im Staub darniederliegen! Ach! ach! sagte ich zu mir, wie kann der Verlust eines Kindes eines Menschen Seele betrüben, wo so Großes so schauerlich vor seinem Blick begraben liegt – Bedenke, sagte
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