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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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Antonin Artauds wunderbaren Satz über Lautréamont: »Er kann keinen einfachen, herkömmlichen Brief schreiben«, so Artaud, »ohne dass wir ein epileptisches Beben der Welt spüren, so dass wir das, was auch immer zur Diskussion steht, nicht ohne ein Schaudern benutzen können.« [223] Und genauso, denke ich, lösen all die normalen Worte, die Sternes Stil so häuslich machen, einen gewissen freigeistigen Schauer aus.
    Jedes Wort – und jedes Wort ist immer auch Abwesenheit – kann mit sexuellen Bedeutungen befüllt werden.
    Ja, eigentlich besteht nicht mal Bedarf an Wörtern: Der Leser füllt die Lücken ganz von selbst. Denn dieser Roman beruht auf zwei rhetorischen Tropen: der Hypallage, aber ignorieren wir diesen Begriff fürs erste; und der Aposiopese – wenn ein Satz abgebrochen wird, bevor er zu Ende ist. Wobei Sterne vielmehr eine Art geisterhafte Aposiopese verwendet, wo der Leser sich nicht sicher ist, ob der Satz beschnitten ist oder nicht.
    Während einer Unterhaltung über das Wesen der Frauen zwischen Onkel Toby und Mr Shandy, wundert sich Mr Shandy über die seltsame Tatsache, dass seine Frau darauf besteht, eine Hebamme zu sehen, wo doch Dr Slop mit im Haus wohnt:
    Dann kann es wohl aus keinem anderen Grund von der Welt sein, sprach mein Onkel
Toby
in der Einfalt seines Herzens, – als aus Züchtigkeit: – Meine Schwägerin, möcht’ ich meinen, fügte er hinzu, mag’s nicht leiden, kommt ihr ein Mann so nah an ihre ****. Ich will’s nicht entscheiden, ob mein Onkel
Toby
mit seinem Satz zu Ende war oder nicht; es gereicht ihm zum Vorteil, glaubt man, daß er’s war, – denn ich denke, er hätte nicht ein Wort hinzufügen können, das ihn manierlicher gemacht haben würde. [224]
    Dies ist ein Witz auf Kosten des Lesers, nicht auf Kosten Onkel Tobys. Es ist der Leser, der sofort jenes Wort mit den vier Buchstaben liefern kann, das Sternes vier Sternchen ersetzt. Ja, lieber Leser, du.
    7
    Eines Tages bekam Laurence Sterne von einem amerikanischen Fan ein Geschenk: einen Spazierstock mit mehreren Handgriffen. Und in seiner Antwort an den amerikanischen Fan formulierte Sterne eine Wahrheit mit weitläufigen Implikationen:
    Ihr Spazierstock ist in keiner Hinsicht
shandyscher
als darin, daß er
mehr Handgriffe als einen einzigen
besitzt. Der Vergleich [mit dem Tristram Shandy] hinkt nur insofern, als jeder denjenigen Griff in die Hand nehmen wird, der ihm am bequemsten erscheint. In Tristram Shandy dagegen ergreifen die Leute den Griff, der ihren Leidenschaften, ihrer Unwissenheit oder ihrer Empfindlichkeit entspricht. [225]
    Es ist ein weiser Brief, ein schelmischer Brief von Laurence Sterne. Und er drückt aus, warum der Leser, wenn man als Autor frei sein will, ein Problem darstellt. Der endlose, abwesende Leser ist in gewisser Weise ein Durcheinander von Steckenpferden.
    Es gibt verschiedene Lösungen für dieses Problem. Stendhal konnte sich einen Leser beispielsweise nur als zukünftige Instanz vorstellen. Auf diese Weise wird die Zukunft zu einer Metapher für die nötige Distanz zwischen Autor und Leser – durch das Ablehnen der Geschichte, der Zeit: der Fehlinterpretationen. Denn die Schwierigkeit, schreibt Stendhal, bestehe nicht darin, die Wahrheit zu sagen: Das Problem sei vielmehr, jemanden zu finden, der sie lesen wolle. Während es definitiv möglich war, so dachte er, etwas zu schreiben, das nur ihm selbst gefiele, und das erst im Jahr 2000 auch von anderen gewürdigt würde.
    Sternes Lösung war dagegen, einfach weiterzureden: »Ihr müßt schon ein wenig Geduld üben«, mahnt Tristram seinen Leser, »geratet drob nur nicht in Harnisch.« Und später bittet er ihn: »Nur bleibt bei guter Laune.« [226] Sterne tut immer so, als charmiere er seine abwesende Zuhörerschaft – als stünde es unter seiner Würde »den Vorteil auszuspielen, den das Glück der Feder itzt über dich gewonnen«. Außerdem stellt er dem Leser großzügig etwas freien Platz auf der Seite zur Verfügung, damit dieser die Witwe Wadman zeichnen kann: »malt sie ganz nach Euerm Sinn – Eurer Geliebten so ähnlich als möglich – Eurer Gattin so unähnlich, als Euer Gewissen es Euch erlauben will …« [227] Aber der Witz ist, natürlich, wie alle Witze, auf gewisse Weise auch traurig. Niemand braucht eine leere Seite: Jeder Leser stellt sich Figuren ohnehin genauso vor, wie er will. Und sein Bild von ihnen wird immer von seinen Steckenpferden abhängen: der Frau, der Geliebten.
    Diese Art, den

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