Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
Vom Netzwerk:
Sterne dieses seltsame, hermeneutische Spielzeug eines Prosastils – in dem fast jeder Satz mit einer sexuellen Bedeutung ausgelegt werden kann. Denn
Tristram Shandy
ist der versauteste Roman der Literaturgeschichte.
    An einem frühen Punkt von
Leben und Ansichten
beschwert sich Tristram über den »unstete[n] Gebrauch der Wörter, welcher selbst die hellsten und erhabensten Verstandeskräfte vernebelt hat«. [218] Dieses Prinzip der sprachlichen Unstetigkeit ist ein weiterer wichtiger Antrieb von Sternes Apparat: denn wenn Wörter unstetig benutzt werden können, bedeutet dies folglich, dass jeder Leser dazu gezwungen wird, anzuerkennen, wie unstet der Akt des Lesens selbst ist. Die Leser sind die mit dem eigentlichen Steckenpferd. Natürlich wollen wir das nicht wahrhaben. Wir glauben alle daran, dass nur andere Menschen ein Steckenpferd haben. Denn kein Reiter eines solchen Steckenpferds hält sich für einen solchen. Stattdessen nennen sie sich Personen. Aber betrachten wir zum Beispiel einmal den Moment, als Mr Shandy seinen Bruder Toby dafür tadelt, dass er das richtige Ende einer Frau nicht von dem falschen unterscheiden kann: »Das richtige Ende, – – – sprach mein Onkel
Toby
, murmelte die zwei Wörter vor sich hin und fixierte dabei mit beiden Augen unbewußt eine kleine Spalte, die ihre Ursache in einer schadhaften Fuge im Kaminsims hatte.« [219] Behutsam fährt Sterne mit seiner Erzählung fort. Aber der Leser hat alles beobachtet; der Leser hat gesehen, wie Toby die kleine Spalte angesehen hat. Wir sind schließlich assoziationsfähige Lebewesen. Und unsere Assoziationen sind beschränkt. Eine Tatsache, auf der dieser Roman beruht, ist, dass wir alle, wie Tristram, sehr von der Fortpflanzung fasziniert sind: fasziniert von der Maschinerie, mit der Geburtstage produziert werden.
    Ein Jahr und einen Band später fügt Sterne seiner Geschichte noch einen desillusionierten Leser hinzu: Eugenius: »– Hier gibt’s zwei Deutungen, rief
Eugenius
, als wir spazierengingen und wies dabei mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf das Wort Spalte auf der Seite einhundertzweiundzwanzig des zweiten Bandes dieses Buches der Bücher, – hier gibt’s zwei Deutungen, – sprach er. – Und hier gibt’s zwei Wege, erwiderte ich, indem ich mich plötzlich zukehrte, – einen schmutzigen und einen sauberen, – welchen sollen wir nehmen? – Den sauberen, allemal, entgegnete
Eugenius
.« Und dann beginnt Sterne seine lange Geschichte von den Nasen: »[W]as das Wort
Nase
hier in diesem langen Nasenkapitel und an jeder anderen Stelle meines Werkes, wo das Wort
Nase
auftaucht, anlangt, – so erkläre ich, daß ich mit diesem Wort eine Nase meine und nichts mehr oder weniger.« [220] Natürlich wissen wir, dass er eigentlich Penis meint. Was könnte er sonst meinen?
    Denn Sex steckt überall, wo man es erwarten würde, und auch überall dort, wo nicht. Diese Wahrheit, die uns von Geburt an begleitet: »warum«, klagt Mr Shandy gegen Ende des Romans, »löschen wir die Kerze aus, wenn wir es unternehmen, einen Menschen zu machen und zu pflanzen? und wie kömmt es, daß alles, was damit verbunden – das Zubehör – die Vorbereitungen – die Werkzeuge und was sonst noch dazu dient, für etwas gilt, das einem reinen Geist in keiner Sprache, Übersetzung oder Periphrasis verdeutlicht werden dürfe?« [221] Ja,
Tristram Shandy
ist der versauteste Roman, der je geschrieben wurde. Seine Methode baut auf das Phänomen der Spätzündung, der Doppeldeutigkeit, der Periphrase. Alles ist doppeldeutig. Und natürlich ist eigentlich überhaupt nichts doppeldeutig.
    Gegen Ende seiner Geschichte über Knebelbärte schließt der Kurat d’Estella mit einer besorgten Frage, die sich damit beschäftigt, »daß vor einigen Jahrhunderten die Nasen in den meisten Gegenden von
Europa
das nämliche Schicksal ereilte, welches itzt die Knebelbärte im Königreich
Navarra
betroffen hat«:
    Das Übel breitete sich freilich damals nicht weiter aus –, doch haben Betten und Pfühle, Nachtmützen und Nachttöpfe seither nicht beständig am Rand des Verderbens gestanden? Sind Puffhosen, Hemdschlitze und Pumpenschwengel – und Spund und Zapfen nicht immer noch von der gleichen Ideenverbindung bedroht? – Läßt man der Keuschheit, dieser von Natur aus sanftesten aller Regungen – einmal die Zügel schießen – so bäumt sie sich auf wie ein brüllender Löwe. [222]
    Die Fröhlichkeit dieser Passage erinnert mich an

Weitere Kostenlose Bücher