Der multiple Roman (German Edition)
Leidenschaften zutage treten lassen, wenn sie Charaktere zeigen.« [307] Wie Diderot in Paris wollte Puschkin in Sankt Petersburg so viel vom wirklichen Leben in sein Werk einbeziehen, wie er nur irgend konnte. Er wollte interessant sein. Und was interessant ist, sind in der Tat die Details. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Kunst des Romans nicht von einer anderen menschlichen Beschäftigung: der Konversationskunst. »Ein Roman braucht Geplauder; alles muss ausgedrückt werden …«, schrieb Puschkin einmal an einen seiner Freunde. Ein Roman funktioniert nur, wenn er tückisch mit Genauigkeiten umgeht. [38] Wie beispielsweise die Lampe, die einen »Regenbogen auf den Schnee« wirft, wie Eugen bemerkt, als er sie im Vorbeifahren aus seiner Kutsche heraus betrachtet. Woraufhin Vladimir Nabokov in seinem Kommentar dieser Textstelle seine eigene Bemerkung hinzufügte:
Meine eigene sechzig Jahre alte Erinnerung besteht nicht so sehr aus prismatischen Farben, die von den zwei seitlichen Laternen eines Brougham auf Schneewehen geworfen werden, sondern aus den schillernden Spikulen um trübe Straßenlaternen, die durch seine frostüberzogenen Fenster kamen und sich an den Rändern der Scheibe brachen. [308]
Dies ist eindeutig das Gegenteil eines Romans in Versen: Dies ist Poesie in Prosa.
2
1837 veröffentlichten die Redakteure der Zeitschrift
Contemporary
, die Puschkin mitgegründet hatte, in der achten Ausgabe – posthum – eine Auswahl aus Puschkins »Tischgesprächen«. Offenbar beschäftigte Puschkin ein grundlegendes technisches Problem: Wie man eine Figur erschaffen kann, die nicht nur blind einem Plan folgt; eine Figur, deren Entwicklung auf realistische Weise unbestimmt ist. Sein Vorbild war Shakespeare, der Figuren schaffen konnten, die »lebendige Wesen« sind, »die von vielen Leidenschaften, von vielen Lastern beherrscht werden«. Im Gegensatz zu Molière, so argumentierte Puschkin, blieb Shakespeare den vielzähligen möglichen Perspektiven des wirklichen Lebens treu. »Bei Molière ist der Geizige geizig, und sonst nichts; bei Shakespeare ist Shylock geizig, pfiffig, rachsüchtig, kinderlieb, witzig.« [309]
Dies ist eine ungewöhnliche Beschreibung davon, wie man eine Beschreibung zu einer Wahrheit werden lassen kann. Aber Puschkin hatte auch noch weniger gewöhnliche Einfälle.
Im November 1824 schrieb Puschkin an seinen Bruder Lev. Der erste Gesang von
Eugen Onegin
sollte drei Monate später veröffentlicht werden, am 18 . Februar 1825 . Seinem Brief legte Puschkin eine Zeichnung bei, die, so sagte er, unbedingt mit seinem Roman veröffentlicht werden müsse. Die Zeichnung von der Uferböschung der Newa in Sankt Petersburg zeigt Puschkin modisch und gutaussehend; Onegin, etwas weniger umwerfend ohne Puschkins romantische Locken; ein Segelschiff und die Peter-und-Paul-Festung.
Die Illustration wurde aber nie in die Ausgabe von 1825 aufgenommen. Eine Reproduktion des Künstlers Alexander Notbek erschien schließlich in einer Reihe von
Onegin
-Illustrationen, die im Januar 1829 im
Nevski Almanach
veröffentlicht wurden. Darin ist Puschkin nicht länger gutaussehend. Er sieht steif und angespannt aus – so, wie er selbst anmerkte, als habe er mit ganz besonders hartnäckigem Durchfall zu kämpfen. Aber es geht hier nicht um die Ausführung der Zeichnung, sondern um den Witz, der in ihr steckt. Denn dieser war der Grund dafür, dass Puschkin sie unbedingt mit dem Roman veröffentlichen wollte. Die Zeichnung zeigte einen Autor, der mit einer seiner Figuren befreundet war. Und diese Ebenbürtigkeit ist der versteckte Schlüssel zu
Eugen Onegin
: »Mit dem Helden meines Romans/mache ohne Umschweife sogleich,/ich, wenn’s gestattet ist, bekannt:/Onegin, ein alter Kumpan von mir …« [310] Alle, ob wirklich oder ausgedacht, befinden sich auf derselben Ebene. »Als er Tatjana bei einer langweiligen Tante antraf,/setzte sich einmal W. zu ihr/und wusste ihre Seele in Bann zu nehmen.« [311] »W«, »Wjasemskij«, ist Puschkins Freund, Prinz Wjasemskij. Eine bezaubernde Idee von Puschkin, Tatjana einfach in seinen Freundeskreis zu integrieren.
Der Grund für diese Trope – Figuren als Bekannte des Autors darzustellen – ist, dass sie Puschkin erlaubte, die Idee der Freiheit der Figuren noch auf eine andere Weise zu entwickeln. Sein
Eugen Onegin
ist deswegen wie auch Diderots Roman
Jacques der Fatalist und sein Herr
ein Witz, der gleichzeitig eine Variation über Sternes Thema
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