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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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Übersetzung ihm zur Verfügung stand – die von Frénais –, da dessen Bibliothek nach seinem Tod katalogisiert wurde. Deshalb wissen wir heute, dass Puschkin Laurence Sternes
Œuvres complètes
in der Ausgabe von 1818 las. [303]
    Und selbst wenn Machado de Assis Sterne in dieser Ausgabe gelesen hätte, was wahrscheinlich scheint, handelte es sich dabei trotz aller Kritik um eine nicht unbrauchbare Überarbeitung. Denn letztendlich können Übersetzungen holpriger sein, als es sich die meisten Leute vielleicht wünschen würden. Wie unglücklich der perfektionistische Leser darüber auch sein mag, so beweist diese Tatsache doch, dass selbst die Lektüre dieser Annäherung an eine grobe Übersetzung es gewissen Lesern in Rio de Janeiro oder Sankt Petersburg möglich machte zu erkennen, was Sterne so trieb, und die von ihm erfundene Technik weiterzuentwickeln.
    So kann letztendlich auch etwas Fehlerhaftes auf gewisse Weise akkurat sein. [37]

Viertes Multiple
    1
    Von allen bestehenden Variationen über
Tristram Shandy
ist die von Alexander Puschkin vielleicht am unbändigsten – aus einem pyromanischen Grund: Es handelt sich um einen Roman in Versen. Ja, das Komplizierte an
Eugen Onegin
ist seine Oberfläche, seine Abfolge vierzehnzeiliger Stanzen mit kompliziertem Reimschema. Im Gegensatz dazu ist die Handlung einfach: Tatjana liebt Eugen, aber Eugen liebt Tatjana nicht. Also weist Eugen Tatjana zurück. Als er endlich merkt, dass er Tatjana liebt, ist Tatjana mit einem anderen Mann verheiratet. Also weist Tatjana nun ihrerseits Eugen zurück. Ich nehme an, dass es möglich ist, dies als eine edle Tragödie zu lesen, eine Geschichte von zwei Liebenden, die vom Schicksal dazu bestimmt sind, für immer getrennt zu sein. Es ist möglich, die Handlung als Lyrik zu lesen. Aber Lyrik ist schließlich immer eine schwierige Angelegenheit. Puschkin gab
Eugen Onegin
den Untertitel »Roman in Versen«. Und während das ein Witz ist, ein absichtliches Oxymoron, ist es auch wieder kein Witz. Denn für Puschkin gab es keine wirkliche Trennung zwischen einem Roman und Lyrik. In einem Artikelentwurf aus dem Jahre 1822 , der den Titel »Über Prosa« trägt, nörgelte Puschkin an jenen russischen und romantischen Schriftstellern herum –
    die es für unwürdig halten, die allergewöhnlichsten Dinge einfach beim Namen zu nennen, und meinen, sie könnten ihre naive Prosa durch Zusätze und welke Metaphern beleben? Diese Leute können nicht
Freundschaft
sagen, ohne hinzuzufügen: dieses heilige Gefühl, dessen edle Flamme usw. Es müßte heißen: früh am Morgen – aber sie schreiben: kaum erhellten die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne die östlichen Ränder des azurblauen Himmels – ach, wie ist das alles neu und frisch, ist es etwa schöner, nur weil es länger ist? [304]
    Mit kecken zweiundzwanzig Jahren kam Puschkin zu dem vernünftigen Schluss, dass die Kraft der Prosa nicht in der Länge lag, sondern in »Genauigkeit und Kürze«. Denn Prosa »braucht Gedanken und wieder Gedanken, ohne Gedanken sind die glänzendsten Formulierungen unnütz. Mit Gedichten ist es etwas anderes. (Obwohl es unseren Dichtern nicht schaden könnte, eine bedeutend größere Summe an Ideen aufzubringen, als das gewöhnlich geschieht. Mit Erinnerungen an die verflossene Jugendzeit wird unsere Literatur nicht wesentlich vorankommen.)« [305] Indem er
Eugen Onegin
in Versen schrieb, versuchte Puschkin zu zeigen, wie viel mehr Inhalt die Lyrik erfassen konnte. Und wie viel Kürze ein Roman vertrug. Die einzige Pflicht eines Schriftstellers oder eines Dichters oder eines Schriftstellerdichters war es, interessant zu sein. »Sollte man da nicht lieber der romantischen Schule folgen«, schrieb Puschkin drei Jahre später, »die alle Regeln ablehnt, aber nicht der Kunst entbehrt? Interesse – Einheit.« [306] Ich mag diese kleine Bemerkung: Denn sie verbindet Puschkin auf neue Weise mit anderen Multiples von Laurence Sterne und Denis Diderot. Da Puschkin ein Exemplar von Diderots
Œuvres
besaß, das 1821 in Paris erschienen war – sowie ein Exemplar der
Œuvres inédites
von 1821  – ist es möglich, dass er Diderots »Lobrede« auf den englischen Schriftsteller Samuel Richardson gelesen hatte, in der Diderot verkündet, die Kunst der Prosa müsse vor allem »interessant« und detailreich sein. »Denkt über solche ausführlichen Schilderungen, wie ihr wollt: Für mich werden sie immer interessant sein, wenn sie wahr sind, wenn sie die

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