Der multiple Roman (German Edition)
Intriganten zu drehen. Eine todkranke Erbin, Milly Theale, wird von Kate Croy und Merton Densher ausgebeutet – einem habgierigen Paar, das zu arm ist, um zu heiraten. Aber diese Handlung begann nach einer Weile, Henry James zu langweilen. Bis er schließlich auf eine Handlung kam, die seinem Instinkt für Doppeldeutigkeit entsprach. So untersucht der Roman letztendlich also die Frage, ob eine Tat schlecht scheinen aber eigentlich altruistisch sein kann. In
Die Flügel der Taube
sind die offensichtlichen moralischen Haltungen auf ironische Weise umgekehrt. Kate Croy, die Verlobte, bittet Densher, gut zu Milly zu sein, denn sie weiß, dass Milly in Densher verliebt ist. Dann lässt sie, im Wissen, dass sich Densher in Milly verliebt hat, die Situation weiterhin andauern. Ihre eigennützige Handlung wird gleichzeitig zu einer Tat der Selbstverleugnung. Während die Franzosen Sex ohne Bedenken als einfachen, skandalösen Moment instrumentalisierten, baute James ihn in die moralischen Kurzschlüsse seiner Komposition ein. Er verhindert, dass es zum Sex zwischen der dahinsiechenden Erbin und dem geliehenen Liebhaber kommt. Aber das junge Paar – Kate und Merton – hat eine sexuelle Beziehung: Und so ist der Sex mit eingespannt in jenes aus Großzügigkeit und Opfern bestehende Netzwerk des Romans. Bevor Merton Densher beginnt, seinen Täuschungsversuch in die Tat umzusetzen, verlangt er von Kate nach einem »Beweis« ihrer Liebe.
»Ich gebe dir Beweise«, sagte Densher. »Du gibst mir keine.«
»Was nennst du also Beweise?«, wagte sie nach einem Augenblick zu fragen.
»Daß du etwas für mich tust.« [369]
Die Ironie dieser kurzen Unterhaltung liegt darin, dass am Ende des Romans deutlich ist, wie viel Kate eigentlich für Densher getan hat. Sie hat alles geopfert. In vollem Bewusstsein und auf tragische Weise hat sie ihn verloren. Was wie Sittenlosigkeit aussah, war tatsächlich eine riskante Form von Mitgefühl.
In seinem Aufsatz über Baudelaire griff James einmal die »Rohheit der Empfindungen der Fürsprecher der ›L’art pour l’art‹« an: »Sie sprechen davon, dass Sittlichkeit in ein Kunstwerk aufgenommen oder von ihm ferngehalten wird, dass sie in unsere Beurteilung dieses Kunstwerks aufgenommen oder aus ihr ferngehalten wird, als handle es sich dabei um eine farbige Flüssigkeit in einer Flasche mit großem Etikett, die in irgendeinem mysteriösen intellektuellen Kabinett steht. In Wirklichkeit ist sie schlichtweg ein Teil der wesentlichen Reichhaltigkeit der Inspiration …« [370] Seine Argumentation schließt mit einer vielsagenden Gleichsetzung: Die Sittlichkeit könne schon deshalb nicht aus dem Spiel gelassen werden, weil Sittlichkeit und »Gegenstand« austauschbar seien. Für wirkliche Künstler, schließt er, sei »der Gegenstand so sehr ein Teil ihrer Arbeit, wie der Hunger Teil ihres Abendessens ist«. Mit dieser grellen, verdrehten Metapher definiert James seine Methode der Fiktion: in der die Form von ihrem gefräßigen Gegenstand verdaut wird. Was dies in Bezug auf
Die Flügel der Taube
bedeuten könnte, verdeutlicht ein Brief, den James an Ford Madox Ford schickte, nachdem der Roman veröffentlicht worden war. In diesem Brief schrieb James – mit der retrospektiven Genauigkeit des Überarbeiters: »Der Gegenstand war Denshers Geschichte mit Kate Croy – ihre mit ihm & Millys Geschichte waren darin nur eingeschlossen & damit verstrickt.« [371] Das erste Bild hatte Milly geliefert – die sterbende Erbin: Aber ihre Geschichte war von jener Geschichte überholt worden, die ursprünglich nur erfunden worden war, um dieses erste Bild weiter zu erforschen.
Und James’ Gebrauch des Wortes
Gegenstand
ist geladen. Es enthält Jamesische Unterscheidungen. Vier Jahre zuvor beobachtete James »den klaren Unterschied zwischen dem, was in altmodischem Sprachgebrauch als ›Geschichte‹ bezeichnet wird, und dem, was die unverwechselbaren Eigenschaften dessen aufweist, was ich ›Gegenstand‹ nenne«. [372] Im Gegensatz zu Gadda glaubte er an die Trennung von Motiv und Ursache. Diese Überzeugung schaffte es bis in seine berühmteste kritische Äußerung, im Vorwort der 1906 veröffentlichten New Yorker Ausgabe seines allerersten Romans,
Roderick Hudson
: »Im allgemeinen hören Beziehungen tatsächlich nirgends auf, und das besondere Problem des Künstlers besteht ja für ewig darin, nach seiner eigenen Geometrie einen Kreis zu ziehen, in dem sie das
dem Anschein nach
glücklich
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