Der multiple Roman (German Edition)
den jungen Mann auf der Stelle heiraten würde.« [356] Aber das ist immer noch keine Geschichte. Es ist ein sehr roher Entwurf für eine Geschichte. Bisher ist überhaupt nichts passiert. Die moralischen Werte sind immer noch gerade ausgerichtet. James unterbricht seine Arbeit für vier Tage. Am 7 . November 1894 fängt er erneut an.
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Hier sollte ich vielleicht eine Hintergrundgeschichte einfügen. Diese Bemühungen um alles Vielfältige, um die sich selbst ausdehnende Geschichte, wurden zu einer Gewohnheit von Henry James. Einige Monate später, im März 1895 , versprach er Horace Elisha Scudder, dem Herausgeber der Zeitschrift
Atlantic
, drei Kurzgeschichten. Scudder gewährte ihm großzügige 10 000 Wörter. Und im Juni versprach James, dass die erste seiner Geschichten Scudder »weit
vor
dem 15 . Okt.« erreichen würde. Die Geschichte war bereits halb fertig und hatte den Titel »The House Beautiful«. Am 3 . September schrieb James an Scudder mit der Nachricht, die Geschichte würde selbst nach schier »unmenschlichen Qualen« mindestens 25 000 Wörter lang sein und somit vielleicht besser an anderer Stelle unterkommen. Stattdessen bot er ihm eine neue Geschichte an, die er bis zum 1 . Oktober abgeschickt haben wollte. Aber als er nun am 4 . Oktober endlich die erste Hälfte seiner Ersatzgeschichte abschickte, musste er noch eine weitere Entschuldigung anhängen: »Ich
kann
mich leider Gottes trotz wiederholter heldenhafter Anstrengungen, die diese Aufgabe in jeder Hinsicht zur aufzehrendsten machen, die mir je gestellt wurde, nicht an Ihre Längenvorgabe halten.« Er hatte immer noch 2000 – 3000 Wörter zu viel. Dann stimmte er diese tiefempfundene Wehklage an:
Ich merke mit zunehmenden Alter, dass ich so viel Methode & Stil habe, einen so großen & unbezwingbaren Instinkt für Vollständigkeit & dafür, die Dinge im Kontext all ihrer Verhältnisse zu sehen, dass Entwicklungen, wie komprimiert sie auch sein mögen, unvermeidlich werden – zu viel von all dem, als dass ich wie früher zu schnellen Wendungen befähigt wäre. Ich wähle schon absichtlich sehr kleine Ideen aus, um es besser zu machen – aber selbst sehr kleine Ideen werden irgendwann groß. Dieser kleine Gegenstand beispielsweise – und er ist von großer Schlichtheit – war anfangs winzig; aber trotz starker Stauchungen – die mich einen Monat gekostet haben – wurde daraus, was Ihnen hier vorliegt. [357]
Ungewollte Längen wurden in James’ Werk immer wieder zum Problem. [40] Er sehnte sich nach Kürze – idealisierte das Konzept der perfekten kurzen Sache. Dabei handelte es sich teils um ein ästhetisches Ideal von James, teils waren seine Beweggründe aber auch finanzieller Natur. »Also komme ich hartnäckig – oder jedenfalls notwendigerweise – auf die Frage nach der wirklich kurzen Erzählung zurück: komme zurück, weil es ökonomisch notwendig ist.« [358] Denn: »Ich kann 5000 Worte unterbringen – das ist das zwingende Faktum …« [359] Doch das wurde jetzt zum Problem, aufgrund von James’ Kompositionsmethode: dem »ständigen, fruchtlosen, innigen Kampf um die besondere Idee, den Stoff, die Möglichkeit der Gestaltung, den Ort …« [360] Denn dieser Kampf förderte immer nur außergewöhnliche, multiple Feinheiten seiner Ironie zutage – so dass sich der melodramatische Kern, der seinen Geschichten als Handlung diente, in der überempfindlichen Intelligenz seiner Figuren auflöste.
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Zurück im Londoner Winter machte James am 7 . November 1894 Bestandsaufnahme: »Ich hatte mich gefragt, ob etwa eine Übereinkunft des Mannes
mit seiner Braut
weiterführte:
Das arme Mädchen zu heiraten, um an ihr Geld zu kommen, in der Gewißheit, daß sie sterben und ihm das Geld hinterlassen werde
…« Aber »[w]enn sie überdies so sehr in den jungen Mann verliebt ist, wie ich es mir vorstelle, hinterließe sie ihm das Geld, auch ohne daß die Heirat überhaupt zur Debatte stünde.« Im nächsten Satz kommt ihm eine Idee. »Ich glaube, ich bin einer hübschen Idee auf der Spur, wenn das Glück, das Leben, das gestohlene Erlebnis, nach dem das Mädchen sich sehnt,
tatsächlich
in einer leidenschaftlichen Handlung besteht – in einem Akt der Großmut, der leidenschaftlichen Wohltätigkeit, des puren Opfers für den Mann, den es liebt.« [361]
Zuerst hatte ihm also die Möglichkeit eines Opfers von einem Mann vorgeschwebt. Dann das mögliche Opfer des Mädchens. Und jetzt handelte die
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