Der multiple Roman (German Edition)
tun.« [373]
Bekannterweise lobte Joseph Conrad die Romane von Henry James deswegen, weil sie den Leser nie zur Ruhe kommen ließen. Der Roman endet genauso, wie Leben enden, schrieb Conrad, was heißt, dass sie trotz allem immer noch weitergehen. Vermutlich könnte es so scheinen, als stünde diese Position im Widerspruch zu James’ Versuch, einen imaginären Kreis zu beschreiben: Conrad beschreibt eine völlig horizontale Linie, während James’ Ideal der Kreis ist. Ja, es mag sogar den Anschein haben, als beschreibe Conrad in Wirklichkeit Gadda. Aber es ist erst James’ Vermögen, den Kontrast zwischen einem Gegenstand und einer Geschichte zu erkennen, das die Kraft seiner Schlüsse ausmacht: ihre Existenz als düstere Momente der Wahrheit. Weil es nicht realistisch ist, dass sich ein Gegenstand und eine Geschichte decken. Gerade weil die Geschichte unvollendet blieb, während der Gegenstand erschöpfend behandelt wurde, ist James ein so bewegender Schriftsteller. Denn im Gegensatz zu dem Ende, das er in seinen Notizen vorsieht, ist der Schluss von
Die Flügel der Taube
ein erhabener Moment von großer Traurigkeit: ein Trugschluss. Es ist nicht Millys Geld, das jetzt zwischen Kate und Merton steht: Es ist die Tatsache, dass ihre vorherige Beziehung unwiederbringlich verloren ist.
Er hörte ihr stumm bis zum Schluß zu, beobachtete dabei ihr Gesicht, rührte sich jedoch nicht. Dann sagte er nur: »Ich heirate dich, wohlgemerkt, binnen der nächsten Stunde.«
»So wie wir waren?«
»So wie wir waren.«
Doch sie wandte sich zur Tür, und ihr Kopfschütteln war jetzt das Ende. »Wir werden nie wieder so sein, wie wir waren!« [374]
Wie Henry James selbst (und Cervantes und Thomas Manns idealer Schriftsteller) sind sie gefangen in einer ungewollten, selbstgestellten Falle. Sie sind zu ihrem eigenen Multiple geworden.
Die Werke
1
Ungefähr zehn Jahre später, 1951 , in Chicago, konnte der zeitreisende Beobachter Saul Bellow in der Bücherei angetroffen werden, wo dieser sich mit der westlichen Literatur beschäftigte. Er konnte auch dabei beobachtet werden, wie er seinen frühen Roman schrieb, das ist richtig, aber sein Geld verdiente er, indem er Recherchearbeiten für ein Werk namens
Syntopicon
anstellte. Dieses
Syntopicon
hatte den Untertitel
An Index to the Great Ideas
. Es war ein System aller Ideen in der Chicago-Great-Books-Reihe mit Querverweisen – eine Zusammenfassung der westlichen Kultur. Seine erste Auflage erschien 1953 , ein Jahr vor Saul Bellows drittem Roman
Die Abenteuer des Augie March.
Im Vorwort des
Syntopicon
wurde das folgende dem Buch zugrunde liegende Konzept formuliert:
Dieses große Gespräch zwischen den Zeitaltern ist jener lebende Organismus, dessen Struktur der
Syntopicon
wiederzugeben versucht. Er versucht, den Austausch zwischen den größten Denkern der westlichen Zivilisation abzubilden, ihre Gedanken zu den Themen, welche die Menschen einer jeden Epoche bewegten und welche die gesamte Bandbreite der forschenden Untersuchungen und praktischen Interessen der Menschheit abdecken. Wenn er sein Ziel erreicht, wird er die Einheit und Kontinuität des Westens verdeutlichen. [407]
Aber die Konzepte im
Syntopicon
selbst sind nicht besonders interessant. Denn abstrakt existiert ein Konzept kaum: Konzepte sind peinliche Wurmfortsätze einer Persönlichkeit, evolutionäre Redundanzen – wie die männliche Brustwarze. Die ersten zehn Konzepte der westlichen Kultur sind, dem
Syntopicon
zufolge, Engel, Tier, Aristokratie, Kunst, Astronomie und Kosmologie, Schönheit, Sein, Ursache, Zufall, Veränderung. Sie sind Staub. (Im Englischen sind diese Konzepte natürlich alle in alphabetischer Reihenfolge angeführt: »Angel, Animal, Aristocracy, Art, Astronomy and Cosmology, Beauty, Being, Cause, Chance, Change«. [Anm. d. Ü.])
In seinem Buch über Dostojewskij bemerkt André Gide – der Dostojewskij nicht auf Russisch lesen konnte – etwas Seltsames über die Ideen in Dostojewskijs Romanen. »Seine Ideen haben fast nie absolute Geltung; sie bleiben fast immer auf die Personen bezüglich, die sie ausdrücken, und ich möchte weitergehen und sagen: nicht nur auf diese Personen, sondern auf einen ganz bestimmten Augenblick im Leben dieser Personen; sie werden sozusagen aus einem besonderen und vorübergehenden Zustand dieser Person
gewonnen
; sie bleiben bedingt …« [408] Für einen Schriftsteller, schrieb Gide und formulierte ein allgemeines Prinzip, wäre es verrückt, beim
Weitere Kostenlose Bücher