Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
Vom Netzwerk:
prüdeste Heuchelei halten, die dir je untergekommen ist.« [350] Aber ich finde überhaupt nicht, dass Henry James’ Kritik prüde ist. Seine kollektive Verurteilung der französischen Schriftsteller aufgrund ihres ausschließlich auf Genitalien ausgerichteten Tunnelblicks war ästhetischer Natur, nicht moralischer. Henry James’ Definition zufolge schrieben die Franzosen keine Geschichten. Oder sie taten es doch, aber es waren schlechte Geschichten. Denn ungefähr ein Jahr später scheint sich James selbst zu widersprechen, wenn er die französischen Realisten für ihre »wahrhaft höllische Intelligenz in Sachen Kunst, Form, Manier« lobt: »Sie produzieren heute die einzige Art von Werk, das ich respektiere; & trotz ihres starken Pessimismus’ & ihrem Umgang mit den unsauberen Dingen sind sie wenigstens ernsthaft und ehrlich.« [351] Einen Monat später schrieb James über Edmond de Goncourts neuestes Manifest:
    Goncourts Vorwort sende ich gleich zurück, ohne dass ein weiterer Mensch es zu Gesicht bekommen hätte. Es ist interessant & ich stimme mit vielen Punkten darin überein. Aber was der Mann schreibt, hat etwas Unangenehmes, das sich nicht leicht beim Namen nennen lässt, etwas Hartes – Irritiertes, das nicht mitfühlend ist … Wobei ich natürlich ganz für den roman d’analyse bin, sans intrigue & sans ficelle, tant qu’il voudra, & natürlich auch, Dieu sait!, dafür, dass man exquisit schreiben & dem Reportagehaften widerstehen sollte. [352]
    Es mag wie ein Widerspruch klingen, aber vielleicht gibt es hierfür eine Lösung. Es waren nicht die sexuellen Details, die James missfielen, nicht ausschließlich. Seine Sorge war vielmehr, dass es den französischen Realisten an Form fehlte. Sein Ideal war das perfekte Werk. Und so erklärte er in einem späteren Essay »The Lesson of Balzac«, der kurz nach
Die Flügel der Taube
veröffentlicht wurde, dass »fundamentalste und allgemeinste Zeichen des Romans« sei, »dass er völlig aus Versuchen der Darstellung besteht …: weswegen man schließlich sagen konnte, unter Berücksichtung aller Umstände, dass Zolas Leistung in ihrem ganzen immensen Ausmaß ein außerordentliches Zurschaustellen der imitierten Darsellung war«. [353] James zufolge fehlte es den französischen Realisten nicht an Masse, sondern an Qualität. Sie machten sich nicht genug aus Darstellung. Sie wussten nicht, was sie in ihr Werk einfügen sollten und was sie besser wegließen. Sie hatten keinen Sinn für Ironie. In der Konsequenz entstanden monotone Detaildarstellungen, in denen alle Details gleich gewichtet wurden. Eine weitere Folge war der Hang zum Melodramatischen. Sie verwechselten faktische Vollständigkeit mit Schund. Sie gaben sich zu schnell mit dem kleinen Skandal zufrieden, der im Sex lag, während James dagegen den großen Skandal der moralischen Untersuchungen wollte.
    4
    An seinem Schreibtisch in De Vere Gardens war ihm aber nur dieser Plot eingefallen: Ein Mann bemitleidet ein todkrankes Mädchen, ist aber einer anderen verfallen. »Mir scheint, die Handlung liegt in der besonderen Schwierigkeit, die für den Mann aus seinem Verhalten (gegen das Mädchen) folgt und die für ihn in einem Opfer, einem großen Verlust oder Mißgeschick gipfelt.« [354] Aber warum muss es in dieser Geschichte überhaupt einen Verlust, ein Opfer geben? Weil diese immer wieder James’ Hauptressourcen waren. Eine Geschichte wurde in seinen Augen erst zu einer Geschichte, wenn es die Möglichkeit gab, moralische und emotionale Umkehrungen einzubauen – wenn dieselbe Figur im Laufe einer Geschichte gegensätzliche Positionen einnehmen konnte. Deswegen waren Opfer für ihn nützlich. Sie führten zu natürlichen Ironien. So kam James ein Gedanke. Ihm schwebte eine lange Verlobungszeit vor – Geldprobleme, ein im Sterben liegender Vater. Das Wesen dieses Paares ist, dass sie warten – auf Geld, auf ihre Hochzeit. Also:
    Er zieht seine Verlobte, seine Braut voll ins Vertrauen und sagt, »Sei nicht eifersüchtig, wenn ich nett zu ihr bin – du weißt
warum
.« Die Braut ist großzügig, großmütig – auch sie ist voller Mitleid. Sie läßt ihn gewähren – sie sagt, »O ja, das arme Ding: Sei nett zu ihr.« Es geht dann weiter, als ihr wirklich recht ist; doch sie erträgt es noch – sie ist ihres Verlobten so sicher. [355]
    Die endgültige Komplikation, auf die er dabei stößt, ist die folgende: »Es wird sehr deutlich, daß das sterbende Mädchen, wenn sie könnte,

Weitere Kostenlose Bücher