Der multiple Roman (German Edition)
Einflüssen war, wurde er nicht nur von offensichtlichen Quellen beeinflusst. Wie ein Pitcher beim Baseball seine Würfe variiert, variierte Bellow die Einflüsse, denen er sich aussetzte. Ein Stil, der für Memoiren passt, passt auch für einen Roman. Dass Bellow dies erkannte, war ein kleiner, aber bedeutender Kreativitätsschub. Und es erlaubte ihm in der Folge, so großartige, vollgepackte Beschreibungen zu formulieren, wie diese hier:
Die Spitze fest zwischen ihrem schmalen, dunklen, bleckenden Zahnfleisch, von wo ihre ganze List, Tücke, und Herrschsucht ihren Weg nahm, hatte sie ihre besten strategischen Einfälle. Sie war runzlig wie eine alte Papiertüte, ein Autokrat, hart gepanzert und jesuitisch, ein niederstoßender, alter bolschewistischer Geier, ihre kleinen, grauen, bebänderten Füße ruhig auf der Schuhputzrutsche, die Simon in der Werkunterrichtsstunde gemacht hatte, und die vermottete, alte, wollkrausige Winnie, deren Gestank die ganze Wohnung erfüllte, neben sich auf dem Kissen. [424]
Denn Stil ist etwas Internationales. Stil hat nichts mit Ortsnamen zu tun. Ein Stil ist nicht durch seine Entstehung in Chicago eingeschränkt. Schließlich war Bellow nicht einmal Amerikaner. Er wurde in Kanada geboren, in Montreal. Er kam als Kind nach Chicago. Anders ausgedrückt: Die Stimme von Augie ist ein großes, lange beibehaltenes Monument der Nachahmung.
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Diese Heimatlosigkeit kann mit einer Abschweifung verdeutlicht werden: einer Allegorie: der jüdischen Identität.
Der Schriftsteller Isaac Bashevis Singer wurde 1904 in Polen geboren und wanderte 1935 nach Amerika aus. Er schrieb Romane in seiner Muttersprache, Jiddisch. In Amerika schrieb er bis zu seinem Tod weiterhin auf Jiddisch. Ungefähr zwanzig Jahre nach seiner Ankunft in Amerika, begann der amerikanische Schriftsteller Saul Bellow 1953 seine Karriere als Übersetzer.
Das Judentum ist in diesem Projekt der Vervielfältigung des Romans mein Motiv der Ortslosigkeit. Es ist das Motiv für Universalität, für ein gelungenes Weltbürgertum. Obwohl dies natürlich nicht die übliche Definition von Ortslosigkeit ist. In seinem Aufsatz »Greenhorn in Sea Gate«, in dem er seine Eindrücke als Immigrant beschreibt, findet Singer ergreifende Worte über sein Leben in der Ferne: »Die Literatur hat das furchtbare Trauma jener mit Missachtung gestraft, die gezwungen sind, ihr Land zu verlassen, ihre Sprache aufzugeben und ein neues Leben anderswo zu beginnen«, schrieb Singer. »Eine Zerrüttelung dieser Art muss Künstler besonders schwer treffen – Schriftsteller und Schauspieler, deren sprachliche Wurzeln das Wesen ihrer Schöpfungen sind.« [425] Diese ontologische Störung taucht in unendlich vielen Formen auf. Die rote Linie, welche die amerikanischen Schreibhefte auf der linken Seite begrenzt – sie stellte für einen Schriftsteller, der seine Notizen auf Jiddisch machte, von rechts nach links, ein kleines aber ärgerliches Hindernis dar. »Wenn diese rote Linie nicht wäre«, schrieb Singer, »hätte ich vielleicht wirklich ein Genie werden können.« [426]
Aber ich bin mir nicht sicher, ob diese Klagen ernst gemeint waren.
Saul Bellows Übersetzung von Singers Erzählung »Gimpel der Narr« wurde 1953 in der
Partisan Review
abgedruckt. Einige Monate später veröffentlichte Bellow
Die Abenteuer des Augie March
. Seine Übersetzung von Singers Erzählung ist gleichzeitig die Ankündigung eines weiteren großartigen jüdisch-amerikanischen Schriftstellers. Ihre ersten Zeilen sind kurzgefasst, präzise. »Ich bin Gimpel der Narr. Ich selbst halte mich nicht für einen Narren.« [427] Es ist eine triumphale Übersetzung. Aber nach dem herkömmlichen Schema ist sie auch eine falsche Übersetzung. Das ist allerdings nicht unbedingt ein Widerspruch. Auf Jiddisch waren Singers erste Sätze: »Ikh bin gimpl tam. Ikh halt mikh nisht far keyn nar.« [428] Was wortwörtlich bedeutete: »Ich bin Gimpel der
tam
. Ich halte mich für keinen
nar
.« Ein
tam
ist auf Jiddisch ein heiliger Narr, ein Naivling, ein Unschuldslamm. Während ein
nar
schlichtweg ein einfacher Tölpel ist, ein Idiot. Die Geschichte gibt Gimpel recht: Er mag zwar ein wenig naiv daherkommen, aber er ist nicht dumm. Aber auf dieser Welt wird jemand, der nett ist, schnell für ein wenig einfältig gehalten. Bellows quasselige Wiederholung des Wortes »Narr« – was in seiner Unverblümtheit ja auch etwas Liebenswertes hat – stört aber gleich von Anfang an die ironische
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