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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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Roman. Und er hatte sogar versucht, dies zu erklären! »Wir müssen eingestehen, daß wir nach dem Beispiel manches werten Autoren, die Geschichte unseres Helden ein Jahr vor seiner Geburt begonnen haben.« [433] Es war eine weitere von Stendhals hilfreichen Anspielungen auf
Tristram Shandy
 –, den Roman, der bewiesen hatte, dass man einen Roman anders schreiben konnte als chronologisch. Ein Roman konnte musikalisch geschrieben werden. Stendhal verstand dies. Und einhundert Jahre später verstand Bellow es auch. Aber Balzac – obwohl er Laurence Sterne verehrte – verstand es nicht. [434]
    8
    In einigen von Singers erhaltenen Notiz- und Tagebüchern befinden sich Wortlisten, die er sich aufgeschrieben hatte. Eine – datiert auf den 19 . Mai ohne Jahresangabe – ist eine Liste englischer Wörter neben ihren jiddischen Äquivalenten. Diese Wörter sind unwesentlich, ohne gravitas: wie Legosteine.
    Aufhebens
    Anpassen
    Schnecke
    Gänseblümchen
    Ersatzteil
    Lebensmittel
    Opulent
    Mahlzeit
    Superb
    Sich hervortun
    Etwas mausern
    Jemanden abfinden
    Abfindung
    Zusammenfassung [435]
    In seinen Tagebüchern sammelte Singer auf Papierschnipseln Vokabeln – schwer arbeitete er an der englischen Sprache, an ihrer amerikanischen Erscheinungsform.
    Diese Aufzeichnungen sind ein Grund, weshalb es nötig ist, für den internationalen Roman Stil neu zu definieren. Das Maß für Stil war immer der Satz gewesen. [45] Aber wie kann dies stimmen? Nein, ich ziehe Marcel Proust vor, der schrieb, Stil habe »nichts mit Ausschmückungen zu tun, wie manche Menschen denken, er ist nicht einmal eine Frage der Technik, er sagt – wie die Farbschattierungen eines Malers – etwas über die Qualität der Vision aus, über die Offenbarung jenes speziellen Universums, das jeder von uns sieht und das andere Menschen nicht sehen können.« [436] Es ist das reine Selbst. Das ist natürlich eine abstrakte Aussage, aber ich denke, dass es schwierig ist, eine bessere zu finden. Obwohl vielleicht Flaubert – dieser Heilige der Sätze – einen noch besseren Ausdruck dafür gefunden hat: »Die Perle ist eine Krankheit der Auster, und vielleicht ist der Stil der Ausfluß eines noch tieferen Leidens.« [437] Mit Proust und Flaubert in der Hinterhand kann man, denke ich, eine noch spektakulärere Aussage formulieren: Der Stil eines Schriftstellers ist nicht gleich der Sprache, in der er Form annimmt.
    Singers eigene Einstellung zum Jiddischen war allerdings streng allumfassend. 1943 , acht Jahre nachdem er in Amerika angekommen war, schrieb er zwei Essays über das Jiddische: einen über das Jiddisch seiner alten Heimat – »Concerning Yiddish Literature in Poland«, und einen über das Jiddisch seiner neuen Heimat – »Problems of Yiddish Prose in America«. In beiden Aufsätzen war die Argumentationsweise dieselbe. Singer lehnte diese Vorstellung von der Moderne ab – in Bezug auf den Gegenstand eines Schriftstellers und besonders auch in Bezug auf die Sprache: »Amerikanismen triefen vor Fremdheit, vor billigem Glitter, vor Unbeständigkeit. Daraus resultiert, dass die besseren jiddischen Schriftsteller es vermeiden, das amerikanische Leben zu behandeln, und rein subjektiv (ästhetisch) gesehen, ist das richtig.« Seine Schlussfolgerung war ein literarisches Ghetto – »Die jiddische Literatur«, argumentierte er, »ist ein Produkt des Ghettos mit all seinen Vorzügen und Nachteilen und kann das Ghetto nie verlassen«, nicht ohne »die Karikatur einer Sprache« zu werden. [438]
    Aber gleichzeitig war es Singer auch möglich, weniger streng, weniger allumfassend zu argumentieren. Er behandelte – das sagte er zumindest – sein jiddisches Original als Rohfassung, als vorläufige Skizze. 1975 sagte Singer über seine Übersetzer dann, »ich diktiere ihnen auf Englisch, meinem Englisch. Sie polieren mein Englisch auf.« Zwei Jahre zuvor hatte er Englisch seine »zweite Ursprungssprache« genannt. [439] Es ist daher nicht klar, in was für einer Sprache Singer eigentlich schrieb. Sie war gleichzeitig jiddisch und amerikanisch. »Die englische Übersetzung ist mir besonders wichtig«, schrieb Singer, »weil Übersetzungen in andere Sprachen den englischen Text zur Grundlage nehmen werden. Auf gewisse Weise ist das gut, weil ich während des Übersetzungsprozesses viele Änderungen vornehme. Ich erinnere mich immer an das Sprichwort der Kabbalisten, dass es die Aufgabe der Menschen ist, ihre Fehler zu korrigieren, sowohl in dieser

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