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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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[549] Borges beschreibt die Aufgabe, die sich Menard selbst gestellt hatte, so:
    Er wollte nicht einen anderen
Quijote
verfassen – was leicht ist –, sondern den
Quijote
. Unnütz hinzuzufügen, daß er niemals eine mechanische Transkription des Originals ins Auge faßte; er wollte es nicht kopieren. Sein bewundernswerter Ehrgeiz war es, ein paar Seiten hervorzubringen, die – Wort für Wort und Zeile für Zeile – mit denen von Miguel de Cervantes übereinstimmen sollten. [550]
    Diese Geschichte über
Don Quijote
ist ein kleines Multiple von
Don Quijote
. Denn was ist Pierre Menard weiter, als ein komischer Idealist? Und natürlich ist der wahre Imitator von
Don Quijote
nicht Menard, sondern Borges. Was dieser durch sein Experiment mit den ausgedachten Multiples zeigen wollte, ist, dass Menard mit seinen wenigen Seiten Quijote – so Borges über Menards wenige Seiten Quijote – »(vielleicht ohne es zu wollen) durch eine neue Technik die abgestandene und rudimentäre Kunst des Lesens bereichert hat: die Technik des vorsätzlichen Anachronismus und die irrtümlichen Zuschreibungen«. [551] Denn Menards zwei fertige Fragmente sind genau aus diesem Grund sehr seltsame Objekte. Und die seltsamsten Dinge, die sie anstellen, haben mit Inhalt und Form zu tun.
    2
    »Es ist eine Offenbarung,«, schreibt Borges, »den Quijote Menards dem von Cervantes gegenüberzustellen.« Und damit übertreibt er wirklich nicht. Als Cervantes beispielsweise im siebzehnten Jahrhundert seine großartige Definition der Wahrheit formulierte – »deren Mutter die Geschichte ist, Nebenbuhlerin der Zeit, Archiv aller Taten, Zeugin des Verflossenen, Vorbild und Anzeige des Gegenwärtigen, Hinweis auf das Künftige« – handelte es sich schlichtweg um »ein bloßes rhetorisches Lob auf die Geschichte«. Aber als Menard den gleichen Satz zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts schreibt, muss man zugeben: »Dieser Gedanke ist verblüffend.« Der Satz hat sich auf einmal in einen avantgardistischen Satz der Relativität verwandelt. Hör nur, schreibt Borges! Für Menard ist die historische Wahrheit »nicht das Geschehene; sie ist unser Urteil über das Geschehene«. Im zwanzigsten Jahrhundert hat diese Idee etwas waghalsig Neuartiges. Und genauso, wie sich der Inhalt umgekehrt hat, sind die beiden Stile – die auch der gleiche Stil sind – zu radikalen Gegensätzen geworden. »Der archaisierende Stil von Menard – immerhin ein Ausländer – leidet an einer gewissen Affektiertheit«, fügte Borges hinzu. »Nicht so der des Vorläufers, der unbefangen das seinerzeit geläufige Spanisch schreibt.« [552]
    3
    Ist es nicht offensichtlich? Mit diesem Gedankenexperiment der Wiederholungen greift Borges die herkömmliche Vorstellung davon an, was ein literarisches Objekt ausmacht.
    Die erste Schlussfolgerung mag vielleicht ein wenig mondän sein. Mit dieser Parabel weist Borges den sentimentalen Historiker auf die ungemütliche Tatsache hin, dass alle Romane, die kollektiv die zeitlose Geschichte der Romanform bilden, jeweils absolut durch ihre historischen Zeiten und Orte geprägt sind. Wertevorstellungen sind untrennbar mit der Geschichte verbunden. Aber sobald der internationale Leser beginnt, über jene Multiples nachzudenken, die Übersetzungen sind – oder Überarbeitungen oder Variationen oder Auslegungen – dann dreht diese Schlussfolgerung sofort durch. Denn jedes Multiple, wie auch Menards
Don Quijote
, beinhaltet immer eine Zeitverschiebung. Es ist eine Kunst der Verhältnisse. Eine identische Überarbeitung muss immer ein unmöglicher Wunsch bleiben. Es gibt kein System der Zeitreise, das Cervantes im zwanzigsten Jahrhundert nach Paris transportieren könnte. Ein Cervantes des zwanzigsten Jahrhunderts ist eine philosophische Unmöglichkeit.
    Mit anderen Worten: Es ist unvermeidlich, dass jedes Multiple immer einzigartig ist, aber das macht gerade seinen Charme aus.

Überarbeiten
    1
    Der Traum von der perfekten Überarbeitung hat seinen Ursprung in der Welt der Bilder: wie zum Beispiel Sherrie Levines Kopien von Schiele oder Míro oder Malevich. Oder wie sie Fotografien von Walker Evans und Edward Weston neuinszenierte. Aber vor allem wird in dieser anderen Welt der Bilder die Vorstellung der Originalität durch die Nachahmung der in den Massenmedien angewandten Methoden angegriffen – wie beispielsweise durch die Fotomontagen von John Heartfield oder Brechts
Kriegsfibel
oder Debords
Détournements
. Während Romane

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