Der multiple Roman (German Edition)
komplizierter sind, weil sie für sich genommen bereits multiple Objekte sind. Die Überarbeitungen der Romankunst sind definitionsmäßig Überarbeitungen von Einzigartigkeiten: Sie sind einzigartige Abwandlungen einer einzigartigen Form.
Was nicht heißen soll, dass etwas Einzigartiges nicht auch kollektiv sein kann.
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1949 veröffentlichte Theodor Adorno, ein deutscher und jüdischer Emigrant, der in Los Angeles lebte, endlich ein Buch mit dem Titel
Philosophie der neuen Musik
, an dem er fast zehn Jahre lang gearbeitet hatte. Den philosophischen Ansatz dieses Buches kann man zu einer einfachen These reduzieren. Adorno gefiel die Musik von Igor Strawinsky – einem russischen Emigranten, der auch in Los Angeles lebte – nicht. Aber er mochte die Musik seines Freundes Arnold Schönberg, einem jüdisch-österreichischen Flüchtling. Der auch in Los Angeles lebte und Adornos Nachbar war.
In seinem Buch wollte Adorno bestimmen, was den Wert eines musikalischen Werkes ausmachte. Dieses Experiment sollte testen, was den Wert irgendeines ästhetischen Objekts ausmachte. Adorno erklärte, er liebe Schönbergs Musik deswegen, weil sie sowohl völlig neu sei, als auch völlig authentisch. Dies sei der Grund für ihre Bedeutung innerhalb der Geschichte der Musik. Während Strawinsky, dessen Kunst eine explizite Überarbeitung der Musikgeschichte darstellte, eben genau deswegen eine historische Belanglosigkeit sei. Es fehle ihm an Herz. Es fehle ihm an radikaler Authentizität. Während eines vom Terror zerrissenen Jahrhunderts, argumentierte Adorno, sei die einzige adäquate musikalische Form fast stumm vor Schmerz: »Auf diese letzte Erfahrung hin, […] ist die neue Musik spontan angelegt, auf das absolute Vergessensein. Sie ist die wahre Flaschenpost.« [553] Und im Gegensatz dazu, fand Adorno, sei Strawinsky oberflächlich. Er beschäftige sich zu sehr mit der Geschichte seiner Kunst, als dass er sich wirklich der Geschichte seines Jahrhunderts bewusst sein könne. Er schreibe ausschließlich »Musik über Musik« – und »ließ davon sich verlocken, der Musik durch Stilprozeduren ihr verpflichtendes Wesen aufs neue einzubilden«. [554]
Ein Jahr bevor Adorno seine
Philosophie der neuen Musik
veröffentlicht hatte, wurde Schönbergs Oratorium
A Survivor from Warsaw
erstmals aufgeführt – in Amerika, gespielt vom Albuquerque Civic Symphony Orchestra. Der erste Durchlauf machte die Zuhörer sprachlos. Als der Dirigent fragte, ob sie es noch einmal hören wollten – das Stück ist nur etwa neun Minuten lang – stimmten sie zu. Und so wurde das Stück bei seiner Premiere zweimal gespielt. »Jeder, dem ich von diesem Erfolg erzähle«, schrieb Schönberg,
und davon, dass ein Publikum in Albuquerque die Wiederholung eines meiner Werke bei seiner Erstaufführung forderte, ist sehr erstaunt und begeistert, fast so sehr wie ich es bin.
Es scheint mir, als sollte diese Tatsache möglichst vielen Menschen bekannt sein. Denn es ist eine wunderbare Einstellung gegenüber einem neuen Werk.
Dies sollte zum Vorbild vieler, vieler anderer Orte werden. [555]
Schönbergs Oratorium war ein Denkmal für die Juden, die in Europa im Holocaust umgekommen waren. Seine Thematik war die unverklärte Darstellung des Leids der Menschheit. Aber ich denke nicht, dass es die Wahl dieses Themas war, die der Musik ihren Wert gab. Es war ihre einzigartige, gebrochene Form. Der Text – ein dramatischer Monolog, den Schönberg selbst geschrieben hatte und der von der Figur eines Überlebenden gesungen wird – besteht aus einer aufwendigen Vermischung von Sprachen, denn er wechselt zwischen dem gebrochenen Englisch des Überlebenden und den erinnerten deutschen Sprachfetzen der Befehle von Nazi-Offizieren, und schließlich einem Stimmchoral der toten Juden, die das Schma Jisrael auf Hebräisch singen. Schönbergs Oratorium ist ein ganz eigenes vielsprachiges Objekt. Und es ist auch ein ganz eigenes Stilobjekt. Denn sicher, Schönberg war berühmt dafür, dass er die Zwölftontechnik erfand – seine Kompositionstechnik mit zwölf Tönen, die jeweils nur untereinander verwandt sind. Aber während es stimmt, dass dieses System die Beschreibung des Überlebenden von seinen Erfahrungen dominiert, entwickelt sich das Stück dann weg von Schönbergs einschlägigem Stil – bis hin zu dem hieratischeren, rituelleren Modus des hebräischen Chorals.
Auf welche Weise kann Schönbergs Oratorium also als authentisch betrachtet werden? Keine
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