Der multiple Roman (German Edition)
Anfang seiner Ausgabe der Übersetzung von Poes Geschichten. Die Übersetzung dieser Geschichte machte Poe theologisch erheblich grandioser, als er es im Original war: Er war jetzt »Le Démon de la perversité«. Denn bei dieser philosophischen Ablehnung des Fortschritts, der Menschheit – der »Idee des Nutzens« [599] – handelte es sich um eine private Manie Baudelaires.
An diesem Punkt in seinen Notizen, wo er über Poe als Literaturkritiker schreibt, tritt das zweite Charakteristikum von Baudelaires Poe in den Vordergrund. Denn für Poe, so Baudelaire, besaßen »die Vollkommenheit der Anlage und die Korrektheit der Ausführung [Vorrang]; er zerlegte die literarischen Werke wie mangelhafte mechanische Vorrichtungen …« [600] Diese Fähigkeit, eine Komposition als Maschine zu betrachten, war das Resultat seiner starken Intuition: Poes Konzept von der Einbildungskraft, schreibt Baudelaire, war »ein fast göttliches Vermögen, das vor allem, unabhängig von den philosophischen Methoden, die geheimen inneren Beziehungen der Dinge, die Entsprechungen und Analogien wahrnimmt«. [601]
Entsprechungen
! Sein eigenes Wort! Und deshalb, fuhr Baudelaire fort, liebte Poe die Kurzgeschichte mehr als den Roman, die
Novelle
mehr als den
Roman
: weil man in einer Kurzgeschichte seine Komposition perfektionieren konnte: »Dans la composition tout entière il ne doit pas se glisser un seul mot qui ne soit une intention, qui ne tende directement à parfaire le dessein prémédité«, schrieb Baudelaire [602] – in einer nicht anerkannten direkten Übersetzung von Poe: »In the whole composition there should be no word written of which the tendency, direct or indirect, is not to the one pre-established design.« [603] [51]
Poe war ein Vorbild der abstrakten Form. Er war ein Vorbild der Intensität. Das bedeutete, dass der Effekt auf den Leser dementsprechend allumfassend war, dass seine »Kürze die Intensität der Wirkung steigert. Diese Lektüre, die ohne Unterbrechung stattfinden kann, hinterläßt im Geist des Lesers eine sehr viel mächtigere Erinnerung als eine zerstückelte Lektüre …« [604] Und dies war der Poe, der von Baudelaire in dessen letzter großer Übersetzung entwickelt wurde:
The Genesis of a Poem (Die Entstehung eines Gedichtes)
. In Baudelaires Vorwort zu seiner Übersetzung von Poes Gedicht »The Raven« und Poes »Philosophy of Composition« lobte Baudelaire Poe dafür, dass er die erste Person sei, die die Möglichkeit einer algebraischen Berechnung der Inspiration ansprach:
Ein anderes seiner Lieblingsaxiome lautete: »In einem Gedicht wie in einem Roman, in einem Sonett wie in einer Novelle muß alles zu der Lösung beitragen. Ein guter Autor hat schon die letzte Zeile im Sinn, wenn er die erste niederschreibt.« Dank dieser bewundernswerten Methode kann der Komponierende sein Werk vom Ende her beginnen, und je nach Laune an jedem beliebigen Teil arbeiten. Kann sein, solche
zynischen
Maximen verstimmen die Liebhaber des poetischen
Wahnsinns
; doch jeder möge es damit halten, wie er mag. Es wird immer angebracht sein, ihnen zu zeigen, wie sehr die reifliche Überlegung der Kunst zum Vorteil gereicht, und den Weltleuten das Auge dafür zu öffnen, welche harte Arbeit dieser Luxusgegenstand erfordert, den man Poesie nennt. [605]
Dann folgte »The Raven« mit einem begleitenden Aufsatz von Poe: Den Übergang bildete Baudelaires Beschreibung des Aufsatzes als »Korridor, Studio, Labor, interner Mechanismus …« [606]
3
Ich habe es Aneignung genannt: Aber ich bin mir nicht sicher, ob ein solches Wort dieses Phänomen wirklich erklären kann. Baudelaire benutzte Poe als fiktives Bild seines idealen Dichters. Und dies schuf die Zeitverdrehungen, mit denen Baudelaire wie folgt auf die orthodoxen Anschuldigungen, er sei ein Nachahmer, antwortete:
Nun! Man beschuldigt mich, mich, Edgar Poe zu imitieren. Wissen Sie, warum ich Poe so geduldig übersetze?
Weil er mir ähnelt
. Als ich erstmals eines seiner Bücher aufschlug, sah ich mit Erstaunen und Freude nicht nur die Gegenstände, von denen ich bereits geträumt hatte, sondern ganze SÄTZE , die ich geschrieben hatte und die er imitiert hatte, 20 Jahre zuvor. [607]
Selbstverständlich hatte Baudelaire recht.
Diese Geschichte des übersetzten Poe ist eine seltsame Fallgeschichte – wo die Leidenschaft eines Lesers und eines Übersetzers den seltsamen Effekt hat, einen Wert in einem Werk zu schaffen, den das Werk im Original nie
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