Der multiple Roman (German Edition)
Dingen.
Seine Romane sind Übungen mit Figuren, die zu verschwinden versuchen. Oder man könnte auch sagen, sie handeln ausschließlich von Figuren, die sich nicht zu Hause fühlen können. Und ein Symbol dieser Sehnsucht ist Amerika.
Aneignen
1
Dass Amerika eine Erfindung ist, mag einem wie eine verrückte Idee vorkommen: Aber die Geschichte der Aneignung ist noch ein vergleichsweise mildes Beispiel jener verrückten Schlussfolgerungen, die man aus der Internationalität des multiplen Romans ziehen muss. Die logischen Folgerungen über Multiples stehen oft Kopf – wie die mögliche Annahme, dass eine Überarbeitung eine Quelle verbessern kann: oder, um es noch präziser zu formulieren, dass ein mittelmäßiges Werk in einer völlig anderen Sprache und von einem anderen Netzwerk der Annahmen umgeben zu etwas werden kann, das von dauerhaftem Wert ist. Aber dann handelt es sich bei dieser Art der Transsubstantiation nur um eine weitere Lektion von Pierre Menard – dieser Witz auf Kosten des literarischen Eigentums. Und der Beweis hierfür ist eine Geschichte von Edgar Allan Poe in Paris, diesem Autor von Kurzgeschichten, diesem Gelegenheitsdichter.
1842 begann Edgar Allan Poe – der gerade seinen Job als Redakteur bei
Graham’s Magazine
gekündigt hatte und 33 Jahre alt war – in Philadelphia an einem Gedicht mit dem Titel »The Raven« zu arbeiten. Darin beklagt ein Mann den Verlust seiner Freundin, während ein Rabe ihn an das Verstreichen der Zeit erinnert. Das Gedicht beginnt bekanntlich – mit einer Art klagendem Knittelvers:
Once upon a midnight dreary, while I pondered, weak and weary,
Over many a quaint and curious volume of forgotten lore –
While I nodded, nearly napping, suddenly there came a tapping,
As of some one gently rapping, rapping at my chamber door. [588]
Ja, internationaler Leser: Dieses Gedicht ist eine Ansammlung von Krempel.
Die Umstände der Genese und Komposition dieses Gedichts wurden 1846 von Poe erläutert – ein Jahr nachdem es erstmals veröffentlicht worden war –, in einem Aufsatz mit dem Titel »The Philosophy of Composition« (»Die Methode der Komposition«), der im
Graham’s Magazine
veröffentlicht wurde. In diesem Aufsatz testete er seine ganz persönliche Abfolge poetischer Klischees. Weil er die Schönheit als Thema seines Gedichts gewählt hatte – und weil es kein poetischeres Thema gab als die Schönheit –, musste er in der Konsequenz einen Ton wählen, in dem sich die Schönheit am offensichtlichsten manifestierte: »und alle Erfahrung lehrt, daß diese Tonart eine der
Trauer
ist. Schönheit jeglicher Art bewegt in ihrer höchsten Entfaltung die empfindsame Seele unvermeidlich zu Tränen. Melancholie ist daher die rechtmäßigste aller poetischen Tonarten.« [589] Dann, als er »nach einem künstlerischen Reiz, der mir als Grundgedanke bei der Anfertigung des Gedichtes dienen konnte«, suchte, entschied sich Poe für einen Refrain. Der beste Refrain, entschied er, bestände nur aus einem einzigen Wort. Aber aus welchem? Er wusste, dass es das Ende jeder Strophe bilden würde. »Daß ein solcher Abschluß, um Kraft zu haben, klangvoll sein und eine gedehnte Betonung erlauben mußte, ließ sich nicht bezweifeln; und diese Überlegungen brachten mich unvermeidlich auf das lange
o
als den klangvollsten Vokal, in Verbindung mit dem
r
als dem best artikulierbaren Konsonanten.« Auf der Suche nach einem Wort, das auf
or
endete, sei »es völlig ausgeschlossen, das Wort ›Nevermore‹ zu übersehen«. [590]
Besorgt, weil kein rationales menschliches Wesen das Wort
nevermore
wieder und wieder vor sich hin sagen würde, kam Poe auf die Idee, einen Vogel zu benutzen. Zuerst dachte er an einen Papagei, entschied sich aber schon bald für einen Raben, da er »ungleich passender für die beabsichtigte
Tonart«
[591] sei. Was sein Thema betraf:
[So] fragte ich mich jetzt: »Welcher ist unter allen melancholischen Gegenständen nach dem
allgemeinen
menschlichen Verständnis der
melancholischste
?« Der Tod – war die naheliegende Antwort. »Und wann«, fragte ich mich, »ist dieser melancholischste Gegenstand am dichterischsten?« Aus dem, was ich schon hinlänglich erörtert habe, ergibt sich auch hier eine naheliegende Antwort: »Wenn er sich aufs innigste mit der Schönheit verbindet; der Tod einer schönen Frau ist also fraglos der dichterischste Gegenstand auf Erden – und ebenso zweifellos ist der geeignetste Mund für einen solchen
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