Der multiple Roman (German Edition)
Joyces
Work in Progress
. Wenn er sich mit
Work in Progress
beschäftige, schrieb Beckett, sei der Leser mit etwas völlig Neuem konfrontiert: »Hier haben wir Seiten und Seiten unmittelbaren Ausdrucks. Und wenn Sie es nicht verstehen, meine Damen und Herren, dann deshalb, weil Sie zu dekadent sind, um es aufzunehmen.« [611] (Beckett hatte schließlich schon immer ein schwieriges Verhältnis zu seinen Lesern gehabt, schon als 23 -Jähriger.) »Sie sind nicht zufrieden, wenn die Form nicht so scharf vom Inhalt getrennt ist, daß Sie den einen begreifen können, fast ohne sich die Mühe zu geben, die andere zu lesen. Dieses schnelle Abschäumen und Verschlingen der dünnen Sahneschicht des Sinns wurde durch das, was ich einen fortwährenden Prozeß reichlicher intellektueller Speichelbildung nennen möchte, ermöglicht.« Ja, Beckett war nie mit dem lieben Leser zufrieden und mit dessen »schnellem Abschäumen«. Er sah keine Hoffnung für ihn. Und so kam er zum hysterischen Finale seines Arguments:
Hier
ist
die Form der Inhalt, der Inhalt
ist
die Form. Sie beklagen sich, weil das Zeug nicht englisch geschrieben ist. Es ist überhaupt nicht geschrieben worden. Es ist nicht zum Lesen da – oder besser, es ist nicht nur zum Lesen da. Es ist dazu da, angesehen und angehört zu werden. Er schreibt nicht
über
etwas;
sein Schreiben ist dieses etwas selbst
. [612]
Das war ein Wunsch, der ihn nie verlassen sollte. Viele Jahre später nachdem Joyce gestorben war, schrieb Beckett am 9 . März 1949 an seinen Freund Georges Duthuit: »Es ist mir nicht mehr möglich, etwas Längeres über Bram oder irgendein sonstiges Thema zu schreiben. Es ist mir nicht mehr möglich,
über
etwas zu schreiben.« [613] Nicht
über
etwas zu schreiben, darin lag sein absolutes, unmögliches Ideal. Und in Joyces
Work in Progress
, argumentierte Beckett, beruhe diese Schließung der Lücke zwischen Welt und Ding auf einer besonderen Technik: »James Joyce hat die Sprache des Sophistischen entledigt. Und man darf mit Recht behaupten, daß keine Sprache so sophistisch ist wie die englische. Sie ist zu Tode abstrahiert.« [614] Aber die Beispiele für diese Dinglichkeit, die er aus Joyces Werk auswählt und aus den Werken von Joyces Vorgängern in der englischen Literatur – Shakespeare und Dickens – sind nur überzeugend, nur charmant: Sie sind sprachliche Annäherungen von Wörtern an Dinge, nicht die Dinge selbst. Aber was könnten sie sonst auch sein?
Shakespeare gebraucht fette, schmierige Wörter, um den Verfall auszudrücken: ›
Duller shouldst thou be than the fat weed that roots itself in ease on Lethe wharf.
‹ Durch die ganze Dickens’sche Beschreibung der Themse in ›Great Expectactions‹ hören wir den Schlick sickern. Diese Art zu schreiben, die Sie so dunkel finden, ist ein Extrakt des Wichtigsten aus Sprache, Malerei und Gebärdenspiel, mit der ganzen unausbleiblichen Klarheit der einstigen Sprachlosigkeit. Hier herrscht die barbarische Sparsamkeit der Hieroglyphen. Hier sind die Wörter nicht die höflichen Verzerrungen der Druckerschwärze des 20 . Jahrhunderts. Sie sind lebendig. Sie drängen sich aufs Papier und glühen und entflammen und verglimmen und verschwinden. [615]
Denn diese Behauptung, die Beckett im Namen von James Joyce macht, ist nur die Rückwärtsrolle einer tiefsitzenden unanfechtbaren Angst – der Sorge, dass Sprache vielleicht nie eine verlässliche Ausdrucksform sein kann: weil sie zu öffentlich ist, zu verliebt in ihren Gegenwert und ihre Nützlichkeit. Weil sie zu kommunikativ ist, um der Kommunikation zu dienen.
Acht Jahre später, 1937 , hatte Beckett
Whoroscope
geschrieben – ein »Gedicht über die Zeit«, einen langen Aufsatz über Proust, den Erzählungsband
More Pricks Than Kicks
, die Gedichtesammlung
Echo’s Bones and Other Precipitates
und zwei Romane,
Dream of Fair to Middling Women
, der nie einen Verleger finden sollte, und
Murphy
, der schließlich einen Verleger finden sollte, aber erst um einiges später. All diese Werke sind brillant, das ist völlig richtig, aber sie zeigen auch eine neurotische Tendenz zu der von Joyce bekannten virtuosen Aneignung englischer Stile. Die Situation war ausweglos. Beckett, so scheint es, hatte sich in eine literarische Sackgasse manövriert. Und so schrieb er im Juli 1937 an Axel Kaun, einen Lektor des deutschen Rowohlt Verlags, den er vor kurzem kennengelernt hatte. Kaun bat ihn, eine Auswahl der Gedichte von Joachim Ringelnatz
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