Der multiple Roman (German Edition)
besaß. Und vielleicht kann dieses Phänomen eine weitere beunruhigende Wahrheit bestätigen: dass jeder literarische Wert seinen eigenen seitenverkehrten Zwilling hat – so dass etwas Kitschiges auch als etwas Reines in Erscheinung treten kann. Wert ist etwas viel Übertragbareres, als die meisten Historiker freiwillig zugeben würden. Auf diese Weise wird die mittelmäßige Bedeutungslosigkeit von Poes Stil im Französischen zu
la poésie pure
. [608] Ja, dies ist ein Beweis dafür, dass eine literarische Maschinerie übertragbar ist, und dies macht vielleicht noch verrücktere Schlussfolgerungen notwendig. Vielleicht muss sich der internationale Leser also an neue Formen der literarischen Miteigentümerschaft gewöhnen – daran, dass Stile problemlos angeeignet und überarbeitet werden können.
Die Geschichte von Poe in Paris beweist ein dunkles Paradox des Überarbeitens: dass es möglich ist, etwas zu stehlen, das nie wirklich da war.
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Natürlich ist es immer auch möglich, seine eigenen vielsprachigen Überarbeitungen herzustellen. So lässt sich eine Parabel oder Geschichte über Samuel Beckett einleiten. Und dies ist entweder eine Geschichte darüber, wie zwei Sprachen einen Stil bilden können, oder davon, wie sich ein Stil verdoppeln kann – oder vielleicht auch beides gleichzeitig … Aber bevor sie mir unbemerkt zu einer Allegorie wird oder zu einer Theorie, braucht diese Geschichte noch ein paar vielsprachige Fakten.
Am 13 . Januar 1941 , als Beckett 34 Jahre alt war, starb James Joyce in Zürich im Alter von 58 Jahren. Er war Becketts Freund und – benutzen wir dieses kitschige Wort, denn es ist wahr – sein Held. Während der vorausgegangenen zwei oder drei Jahre hatte es so ausgesehen, als hätte Beckett das Schreiben aufgegeben. Der Drang dazu hatte ihm gefehlt. Aber ungefähr drei Wochen nach Joyces Tod begann Beckett am 1 . Februar mit jenen Aufzeichnungen, aus denen ein Roman in englischer Sprache entstehen sollte,
Watt
. Der Leser soll für sich selbst entscheiden, ob zwischen den beiden Daten ein Zusammenhang besteht oder nicht. Dieser Roman jedenfalls, den Beckett schrieb, als er in die französische Resistance verwickelt war und inkognito in Frankreich auf dem Land lebte, wurde ungefähr drei Jahre später fertig – am 18 . Februar 1945 . Währenddessen schrieb und veröffentlichte er im Januar 1945 zur gleichen Zeit auf Französisch einen Aufsatz über die Malerei der Brüder Bram und Gerardus van Velde: »La Peinture des Van Velde ou le Monde et le Pantalon«. Ein Jahr später, am 17 . Februar 1946 , begann er den ersten Text seiner
Nouvelles
, mit dem Titel »La Fin« – aber er begann ihn auf Englisch. Einen Monat später, am 13 . März, wechselte er ins Französische.
Er stand kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag. Und er war gerade erst erwachsen geworden.
Es begann eine wilde Arbeitsperiode für Beckett. In den nächsten vier Jahren schrieb er fünf Novellen, drei Romane, zwei Theaterstücke, zwei Aufsätze über die Malerei und diverse Übersetzungen … Zwischen Juli und Oktober 1946 schrieb Beckett eine weitere Novelle auf Französisch mit dem Titel
Mercier und Camier
. Im Oktober schrieb er eine weitere der
Nouvelles
– »L’Expulsé«. Zwischen Oktober und November schrieb er noch eine der
Nouvelles
,
Premier Amour
. Genau wie auch
Mercier und Camier
sollte sie erst viel später veröffentlicht werden. Am 23 . Dezember begann Beckett die dritte und letzte seiner
Nouvelles
, »Le Calmant«. Im Januar und Februar 1947 schrieb er ein französisches Theaterstück, das den Titel
Eleutheria
trug und das zu seinen Lebzeiten nicht aufgeführt werden sollte. Im April erschien seine französische Übersetzung seines frühen Romans
Murphy
. Und im Mai begann er seinen ersten französischen Roman
Molloy
, den er im November beendete. Drei Wochen später begann er den Roman
Malone meurt
(
Malone stirbt
). Im Mai 1948 veröffentlichte er einen weiteren Aufsatz über die Malerei und die van Veldes, »Peintres de l’empêchement«, und beendete
Malone stirbt
. Im Oktober desselben Jahres begann er ein neues Theaterstück,
En Attendant Godot
(
Warten auf Godot
), das er Ende Januar 1949 fertigstellte. Im März begann er den Roman
L’Innommable
(
Der Namenlose
). Außerdem übersetzte er Apollinaires Gedicht »Zone« ins Englische. Währenddessen begann er im Juni an »Three Dialogues« zu arbeiten, mit Georges Duthuit – über die Gemälde von
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