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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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Gegenstand der eines Liebenden, der die Geliebte durch den Tod verlor.« [592]
    Ja, schrieb Poe, das Werk wuchs, wobei er »Schritt für Schritt das Verfahren aufzeichnen wollte […], nach dem [die] Arbeiten ihren letzten Grad der Vollendung erlangen« sollte. [593]
    Und das Problem wäre natürlich, dass das Gedicht, wenn Poe recht hätte, vollendet wäre. Es wäre endlos reproduzierbar. Er hätte eine reine Form der Lyrik entdeckt. Aber da dies natürlich nicht der Fall ist, weil sowohl Gedicht als auch Aufsatz von einer an Don Quijote erinnernden Komik sind, ist diese Analyse eines mittelmäßigen Gedichts tatsächlich nur eine Beschäftigungstherapie der Eitelkeit.
    Und da haben wir also Poe: einen unbedeutenden Schriftsteller in Philadelphia.
    2
    Zehn Jahre später war er in Paris zu einem Phänomen geworden: als Erfinder der reinen Lyrik, als Mathematiker der Wörter. Dieses Paradox ist daher eine der großartigsten Allegorien der Seltsamkeit des literarischen Eigentums. Denn Poe existiert eigentlich nicht wirklich. Er ist ein Produkt von Charles Baudelaire, seinem Übersetzer, entstanden unter dem Druck von dessen Fehldeutungen: von Baudelaire, für den
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kein amüsanter, kitschiger Archaismus war, sondern »ein geheimnisvoll tiefes Wort, schreckensvoll wie die Unendlichkeit …« [594] .
    Indem er Poes schaurige Kurzgeschichten übersetzte, begann Baudelaire damit, Poe zu erfinden. Die erste Geschichte, die Baudelaire übersetzte, wurde im Juli 1848 veröffentlicht. 1852 schrieb Baudelaire dann einen langen Aufsatz über Poe »Edgar Allan Poe: Sa Vie et ses ouvrages« (»Edgar Allan Poe, sein Leben und seine Werke«). 1859 veröffentlichte er eine Sammlung von Poes Geschichten mit dem Titel
Histoires extraordinaires
, mit einem neuen einführenden Aufsatz: »Edgar Poe, sa Vie et ses Oeuvres«. Ein Jahr später, 1857 , veröffentlichte ereinen zweiten Band mit Erzählungen:
Nouvelles Histoires extraordinaires
 – mit einem neuen Aufsatz: »Notes nouvelles sur Edgar Poe«. Dann veröffentlichte Baudelaire im April 1859
La Genèse d’un poème
: bestehend aus einer Einleitung, einer Übersetzung von »The Raven« und einer Übersetzung von Poes »Philosophy of Composition« als »Méthode de composition«. Baudelaires letzte Übersetzung eines Textes von Poe war dessen
Eureka
 – der im November 1863 erschien.
    Der Effekt dieser Übersetzungen und Essays war es, dass ein Doppelbild von Poe entstand. Die erste Neuerung war, dass dieser Schundautor jetzt zum Philosophen des Bösen erkoren wurde. Dies war das Bild, das Baudelaire in seinem Aufsatz »Edgar Poe, sa Vie et ses Oeuvres« heraufbeschwor, der mit seinem ersten Erzählungsband veröffentlicht wurde: Poe war der antidemokratische Künstler, der in einer kulturlosen Nation lebte, ein Mann »der den Fortschritt, diese große moderne Idee, für einen Wahn verzückter Schwachköpfe hielt …« [595] Ja, Poe war der reine Romantiker: »Seine Person war seltsam, verführerisch und, wie seine Werke, von einer unbestimmbaren Schwermut geprägt.« [596] Seine Kunst war eine Kunst der Extreme, der Ausnahmen: ein Mann, der sich in das Groteske warf, der sich »dem Grotesken aus Liebe zum Grotesken ergibt, und dem Gräßlichen aus Liebe zum Gräßlichen« – so dass diese Geschichten wie Delacroix’ Kompositionen, in denen er »seine Gestalten vor Hintergründen, die ins Violette oder Grünliche spielen«, erscheinen lässt, »im Phosphorglanz der Fäulnis und im Dunst des Gewitters«. [597] Ein Jahr später entwickelte Baudelaire sein Bild von Poe in seinen »Notes nouvelles« (»Neue Anmerkungen zu Edgar Poe«) weiter. Mit diesem Aufsatz wurde offensichtlich, wenn es vorher noch nicht offensichtlich genug gewesen war, zu welchem Grad es sich bei Baudelaires Darstellung von Poe wirklich um eine Art Aneignung handelte. Sein Porträt war in Wirklichkeit ein Vorwand: die indirekte Form eines Manifests. Denn es war Baudelaire viel mehr als Poe, der »die natürliche Bosheit des Menschen mit aller Deutlichkeit erkannt und unerschütterlich behauptet hat«. Es war Baudelaire, der das angeborene Mal der Erbsünde in den Menschen erkannt hatte: »Diese ursprüngliche, unwiderstehliche Kraft ist die natürliche Perversität, die bewirkt, daß der Mensch unaufhörlich zugleich Menschen- und Selbstmörder ist, Mörder und Henker …« [598] Als allegorischen Beweis für seinen Einfall setzte Baudelaire Poes Geschichte »The Imp of the Perverse« an den

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