Der multiple Roman (German Edition)
amerikanisch waren. Was auch der Grund für ihre große Enttäuschung war, als sie sahen, dass die amerikanischen Schriftsteller verzweifelt versuchten, ihnen zu ähneln – mit ihrer schicken
Angst
, ihrem eleganten
Realismo
. »Ich erinnere mich noch, wie Pavese begann, die neuen Bücher zu lesen, die nach dem Krieg zu uns kamen«, erinnerte sich Calvino: »– da war Saul Bellow mit seinem ersten Roman
Dangling Man
–, und ich erinnere mich auch an Vittorini, der sagte: ›Die sind ja wie europäische Schriftsteller, eher Intellektuelle, die interessieren uns nicht so sehr.‹« [584]
Der für Pavese ausschlaggebende Schriftsteller war kein Anhänger des amerikanischen Realismus – eines Stils, den er letztendlich beschrieb als »eine besondere Romantik des
die Wirklichkeit-Lebens
. Die Einbildung, daß alles Realismus ist (Dos Passos)«. [585] Nein, die wichtigste Person für Pavese war der letzte politische Schriftsteller unter allen Amerikanern: der Ästhet F. Scott Fitzgerald. »Erinnerst Du Dich daran, wie ich Dir von Fitzgerald erzählte?«, schrieb Pavese an seinen Freund Davide Lajolo. »Ich wollte die Bücher dieses Mannes nicht für den Verlag übersetzen, weil sie mir zu nah standen und auch, weil ich bereits die Absicht hatte, selbst etwas Ähnliches zu schreiben.«
Pavese wollte auf neue Weise über Italiens Vergangenheit schreiben. Sein letzter und bester Roman,
Junger Mond
– veröffentlicht 1950 – hat die gleiche Handlung wie sein erstes Gedicht: die Rückkehr eines Dorfbewohners zur Stätte seiner Kindheit. Und obwohl sich dieser Roman der verdrängten Geschichte von Italiens kürzlich noch faschistischer Vergangenheit bedient, geht es darin nicht wirklich um Politik: Er benutzt diese verdrängte Geschichte stattdessen, um noch viel gigantischere Verdrängungen zu thematisieren. Und so ist das Charakteristikum seiner Technik die Untersuchung von Hintergrundgeschichten. »Das Gleichgewicht einer Erzählung besteht in der Koexistenz von zwei Personen«, stellte Pavese fest, kurz bevor er
Junger Mond
schrieb: auf der einen Seite »der Autor, der weiß, wie es enden wird« und auf der anderen Seite »die Personen der Erzählung, die es nicht wissen. Wenn Autor und Protagonist sich vermischen und wissen, wie es enden wird, muß man die Größe anderer Personen erhöhen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Darum muß der Protagonist,
wenn er selbst erzählt
, vor allem anderen ein Zuschauer sein.« [586] Sein Roman war, mit anderen Worten, eine Überarbeitung von
Der große Gatsby
, ein Experiment der Verschwiegenheit.
Und so beschreibt Pavese in
Junger Mond
die Heimkehr eines Erzählers, der namenlos ist, abgesehen von seinem alten Spitznamen aus Kinderzeiten, Anguilla oder Aal. Anguilla ist ein uneheliches Kind und wurde anfangs von einer Bauernfamilie großgezogen, bevor er von einer besser situierten Familie adoptiert wurde, die einen Hof mit dem Namen »La Mora« besaß. In dieser Familie gab es drei Schwestern – alle schön, elegant, unerreichbar. Vor dem Zweiten Weltkrieg verließ Anguilla das Dorf und zog nach Amerika – wo er reich wurde. Nun kehrt er in das Dorf zurück, aus ihm selbst unbekannten Gründen – Gründen, die mit Heimweh zu tun haben und dem Wunsch nach Wurzeln. Er trifft den ein paar Jahre älteren Nuto – den Klarinettisten der Dorfkapelle. Als Kind hatte Anguilla Nuto immer bewundert. Jetzt sind sie einander ebenbürtig. Und so verfolgt der Roman Anguillas Geschichte in diesem Dorf und auch die Geschichte des Dorfes seit seiner Auswanderung – zerrissen durch die Politik der Faschisten und der des Widerstands. Die letzte Enthüllung des Romans ist Anguillas Entdeckung, dass Santina, eine der ersehnten Schwestern von La Mora, von Partisanen erschossen wurde, nachdem diese aufgedeckt hatten, dass sie als faschistische Spionin gearbeitet hatte. Danach wurde ihre Leiche auf einem Lagerfeuer verbrannt.
Beide, sowohl der Mann, der geblieben war, und der Mann, der ausgewandert war, sowohl Nuto als auch Anguilla, wollen ihre Vergangenheit ignorieren. Aber keinem der beiden gelingt dies. Denn alles hinterlässt Spuren – wie ein Lagerfeuer. »Jeder Roman Paveses dreht sich um ein verborgenes Thema«, schrieb Calvino, »um etwas Ungesagtes, das er sagen will und das sich nur im Verschweigen sagen läßt.« [587] Auf diese Weise benutzte er also Fitzgerald: in seinen Konstruktionen, die in der Luft hängen vor lauter unausgesprochenen, unsagbaren
Weitere Kostenlose Bücher