Der Musentempel
Tempel. Ich hatte ihn nie zuvor besichtigt und war deshalb nicht vorbereitet auf seine atemberaubende Schönheit. Es war ein Rundbau, so daß jede der neun Musen, deren Statuen am Rand aufgestellt waren, gleich viel Platz zur Verfügung hatte.
In Rom hatten wir unseren eigenen prächtigen Tempel des Herkules und der Neun Musen, aber dort genießt Herkules, einer der römischen Lieblingshelden, deutlichen Vorrang, während die Abbildungen der Musen nicht von höchster Qualität sind.
Diese hier waren eines Praxiteles wert. Sie waren aus dem edelsten weißen Marmor gehauen, verziert nur mit feinsten Farbtupfern im Gegensatz zu den vielen grell bemalten Statuen, die man sonst sieht. Das verlieh ihnen eine spektrale, fast durchsichtige Präsenz, wie Geister, die man im Traum sieht. Vor jeder Statue brannte Weihrauch in einem Gefäß und hüllte sie in Rauchschwaden, was weiter zu ihrer göttlichen Erscheinung beitrug. Nur ihre Augen, filigrane Intarsien aus Perlmutt und Lapislazuli, leuchteten mit übermenschlicher Eindringlichkeit.
In diesem Moment wurde mir klar, wie wenig ich über die Musen wußte. Ich wage zu behaupten, ich hätte zwei oder drei von ihnen benennen können: Terpsichore, weil jedermann den Tanz liebt, und Polyhymnia, weil wir alle Lobgesänge zu Ehren der Götter anstimmen, und vielleicht noch Erato, weil sie die Muse der Liebeslyrik ist und ihr Name an Eros erinnert. Aber mein Wissen über die anderen war reichlich verschwommen.
Die Proportionen des Tempels waren perfekt. Er war nicht so erdrückend gewaltig wie viele der alexandrinischen Bauten, sondern hatte eher menschliches Maß. Die Statuen der Musen waren kaum mehr als lebensgroß, gerade so viel, daß unterstrichen wurde, daß es sich eben nicht um bloße Sterbliche handelte. Der polierte Marmor, aus dem der Tempel erbaut war, war in Pastellfarben gehalten, um die ätherische Aura des Orts zu betonen. Außerhalb Roms habe ich nur wenige Tempel, Schreine oder Heiligtümer gesehen, die mir wirklich heilig vorkamen. Alexandrias Tempel der Musen war einer von ihnen.
Sich dort aufzuhalten war, als ob man sich in den Bann der erhabenen Göttin begab. »Gefällt dir unser Tempel, Senator?«
Ich drehte mich um und sah einen kleinen, bärtigen Mann in einem schlichten, weißen dorischen Chiton und einem ebensolchen Haarband aus Stoff »Er ist vollendet«, sagte ich mit leiser Stimme. An diesem Ort seine Stimme zu erheben wäre einer Entweihung gleich gekommen. »Ich möchte ihnen opfern.«
Er lächelte freundlich. »Wir opfern hier nicht. An ihren Feiertagen bieten wir den Göttinnen mit Honig verknetetes Getreide dar und gießen Trankopfer von Milch und Honig aus, das ist alles. Wir verbrennen zu ihren Ehren Weihrauch. Es sind keine Gottheiten, die das Opferblut lieben. Wir arbeiten hier zu ihrem Ruhm.«
»Bist du ein Priester?« fragte ich.
Er senkte leicht das Haupt. »Ich bin Agathon, der Erzpriester der Musen. Bist du mit unseren Göttinnen vertraut?«
»Nur oberflächlich. Sie sind in Rom nicht sehr bekannt.«
»Dann laß mich sie dir vorstellen.« Er führte mich zur ersten, die rechts neben dem Eingang stand. Während wir gingen, sprach er oder intonierte vielmehr ihre Namen, Eigenschaften und Insignien. Da die Musen sich in Gesicht, Figur oder Kleidung wenig unterschieden, erkannte man sie an ihren Attributen. »Klio, die Muse der Geschichtsschreibung. Ihre Attribute sind die Trompete der Helden und die Klepsydra.
Euterpe, die Muse des Flötenspiels und Trägerin der Doppelflöte.
Thalia, die Muse der Komödie, die die Maske einer Komödiantin trägt.
Melpomene, die Muse der Tragödie. Ihre Attribute sind die tragische Maske und die Keule des Herakles. Terpsichore, Trägerin der Lyra, Muse der Poesie und des Tanzes.
Erato, Muse der Liebeslyrik, Trägerin der Kithara.
Polyhymnia, Muse des heroischen Gesangs, aber auch der Mimenkunst, die sich in einer sinnenden Pose den Finger auf die Lippen legt.
Urania, die Muse der Astronomie, deren Attribute Himmelsglobus und Kompaß sind.
Und die bedeutendste von allen, Kalliope, die Muse der epischen Dichtung und der Beredsamkeit, die Tafel und Griffel hält.«
Alle Musen mit Ausnahme der sitzenden Klio und Urania waren stehend dargestellt. Ich hatte ihnen nie die Aufmerksamkeit gewidmet, die sie verdient haben, weil die Zeiten, in denen ich lebte, vor allem Zeiten des Bürgerkriegs und der Gewalt gewesen waren, die der Kultivierung der schönen Künste eher abträglich waren. Aber seit
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