Der Musentempel
Darbietungen seiner Kraft erfreute. Ihm folgten Sänger, die erotische Verse oder den Lobpreis der Naturgötter sangen. Es gab weder epische Gesänge noch Hymnen über die Heldentaten der Krieger. Es war, als habe man derlei Unannehmlichkeiten für diese Nacht verbannt. Ich entdeckte, daß man mit einer Maske ein anderer Mensch wird. Man ist nicht länger eingeschränkt durch die eigene Erziehung, sondern kann die Persönlichkeit der Maske annehmen oder sich von allen Zwängen lossagen und die Welt betrachten wie ein Gott auf einer vorbei schwebenden Wolke.
Genau wie ein Gladiator, der dank der Anonymität eines Helms aufhört, ein verdammter Verbrecher oder ein erbärmliches Wrack zu sein, das sich an die Ludus verkauft hat und ein strahlender und furchtloser Kämpfer wird, der er in der Arena sein muß. Ohne meine übliche kosmopolitische, um nicht zu sagen zynische Pose konnte ich die Feiernden und Vortragenden als eben jene Figuren der Hirtenpoesie erkennen, die sie vorgaben zu sein.
Hypatia, die professionelle Frau mit dem harten Mund, wurde zu einem exotischen Wesen mit Blumenhaar, ihre Hände auf dem Olivenholzbecher verwandelten sich in lebendige Lilien.
Ich hatte pastorale Dichtung immer für eine der albernsten Formen der Poesie gehalten, aber jetzt begann ich ihre Reize zu verstehen.
Und ich? Ich wurde immer betrunkener. Auch die Kulisse und die Gesellschaft trugen zu meiner ungewöhnlichen und unvertrauten Selbstvergessenheit bei. Zuhause mußte ich stets die politischen Konsequenzen selbst meiner privatesten Affären bedenken. An einem Ort wie dem Palast mußte ich aus Selbstschutz stets darauf achten, wer hinter mir stand. Aber hier stand niemand hinter mir. Und es wäre auch egal gewesen, weil ich nicht mehr Decius Caecilius Metellus der Jüngere, leicht verrufener Sproß einer prominenten römischen Familie war, sondern eine Figur aus einem dieser Gedichte, wo alle Frauen Phyllis und Phoebe heißen und Männer nicht Männer, sondern »Freier« sind und alle Daphnis oder so ähnlich heißen.
Kurzum, ich ließ jede Vorsicht fahren. Mir ist bewußt, daß dies wie der Gipfel der Torheit klingt, aber ein Leben in permanenter Achtsamkeit ist langweilig. Alle wahrhaft bedächtigen und vorsichtigen Männer, die ich je getroffen habe, sind fade, erbärmliche Würstchen, während diejenigen, die jede Vorsicht außer acht ließen, interessante, wenn gleich meist kurze Leben hatten.
Wenig später saß unser Serviermädchen oder eines, das genauso aussah wie sie, auf meinem Schoß, während ein FaunKnabe denselben Platz bei Hypatia einnahm. Sie sangen und stopften uns Trauben in den Mund, während sich alle Beteiligten ziemlich zwanglos benahmen. Ich lernte mehr Varianten, jemandem auf griechisch zuzuprosten, als ich mir je hätte träumen lassen. Vielseitige Sprache, das Griechische.
Irgendwann im Verlauf der Nacht fand ich mich hinter Hypatia stehend wieder, die Hände auf ihre geschmeidigen Hüften gelegt und irgend jemandes Hände auf meinen spürend.
Es hätte eine bedrohliche Situation sein können, aber es stellte sich heraus, daß wir alle mit einander unter Anleitung der argolischen Knaben und Mädchen den Kranich-Tanz vollführten. Wie der Vogel, nach dem er benannt ist, ist der Kranich-Tanz eine Mischung aus Grazie und Unbeholfenheit, wobei Hypatia ersteres und ich letzteres beitrug. Ich hatte noch nie zuvor getanzt. Römische Männer tanzen nicht, es sei denn, sie sind Mitglied einer der tanzenden Priesterkollegien. Mir kam es vor, als wären diese Griechen da zufällig auf eine großartige Sache gestoßen.
Der Mond stand schon tief, als die ganze Gesellschaft das Daphne verließ und sich auf dem gewundenen Pfad hinauf zum Paneion machte. Lebende Wesen mischten sich mit den Bronzefiguren am Wegesrand, herumtollend und sich ergötzend in der altehrwürdigen Manier ländlicher Sonnenanbeter. Im Eifer des Gefechts hatten viele sämtliche Kleider abgelegt, zusammen mit allen Hemmungen und jedem Sinn für Anstand.
Im Heiligtum sangen wir gemeinsam Hymnen in arkadischem Dialekt zu Ehren Pans. Das flackernde Licht der Fackeln spielte über die Haut des bronzenen Gotts, und ich meinte, ich hätte ihn lächeln gesehen, ein richtiges Lächeln und nicht eine betrügerische Grimasse wie Baal-Ahrimans. Die Frauen hängten ihre Kränze um seinen Hals und seinen überdimensionalen Phallus, und einige der maskierten Damen baten um Empfängnis. Wenn die Inbrunst des Gottesdienstes in irgendeiner Weise
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