Der Musikversteher
C)
Harmonisierungen von »ostinaten«, sich wiederholenden Bässen: Häufig begegnet uns der »Lamento-Bass«, der auch Flamenco-typisch ist, abwärts in Moll (z. B. A – G – F – E; vgl.die Analysen von Ashcroft und Monteverdi in Teil II, S. 180), der auch chromatisch, also mit Halbtönen vorkommt: A-Gis-G-Fis-F-E.
5. Is It Rhythm?
Wer klatscht wie mit (und warum überhaupt)?
Kurzanalysen: Die Cyprys TANGO-MAX; Queen WE WILL ROCK YOU; Ludwig van Beethoven Beginn der V. SYMPHONIE, Freuden-Melodie aus der IX. SYMPHONIE; Leonard Bernstein I LIKE TO BE IN AMERICA aus West Side Story; The Beatles HERE COMES THE SUN; Igor Strawinsky DIE AUGUREN DES FRÜHLINGS aus Le sacre du printemps; Queen BICYCLE RACE
O du quälender Ohrwurm – da ging mir eine Schlagerdoppelzeile nicht aus dem Kopf, und ausnahmsweise einmal ohne Musik in Form von geordneten Tonhöhen. Aber immerhin, sie war rhythmisiert, und ich zermarterte mein Hirn: Woher kennst du das? Du hast so einen Rhythmus, / dass ein jeder mit muss.
Ich tippte auf Hazy Osterwalds GEH’N SIE MIT DER KONJUNKTUR. Aber, wofür gibt es den Komfort der Neuzeit – das Netz hilft. Ich wurde fündig, es waren Friedel Hensch und die Cyprys. Hier wurde der Refrain zu einem geflügelten Wort – das ist das Höchste, was ein Schlager erreichen kann. Ich sage das mit ehrlicher Bewunderung. Bei den Cyprys überlebte in den fünfziger Jahren ein Hauch von der genial frechen Unterhaltungskultur aus dem Berlin der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, die von den Nazis so gründlich eliminiert wurde. Max Raabe verdankt ja einen Großteil seines Erfolgs der Wiederentdeckung dieser Musik. Und da haben wir auch unser Stichwort, denn der Titel des Cyprys-Schlagers ist TANGO-MAX (1953).
Die Zeile, die mich verfolgte, entstammt übrigens dem Refrain des Stückes:
»Max, wenn du den Tango tanzt, / ja da merkt man was du kannst, / du hast so einen Rhythmus / dass ein jeder mit muss, /Max du bist ja ganz famos / im Tango bist du groß. / Wie machst du denn das bloß?«
– http://www.youtube.com/watch?v=G9RhptOgad8
Der geneigte Hörer des Schlagers wie auch der gut informierte Leser dieser Zeilen wird nun vermuten, dass es sich bei dem Lied um einen Tango handelt. Alles andere wäre unter »abgefeimter Irreführung« abzubuchen. Aber wie kann er sicher sein? Woran erkennen wir jetzt, dass es sich um einen Tango handelt – auch ohne Text? Was ist das Besondere an diesem »Rhythmus, bei dem ein jeder mit muss«? Was ist Rhythmus überhaupt? Rhythmus ist sinnvolle Gliederung von musikalischer Zeit mit hohem Wiedererkennungswert.
Schöne Definition, die mir da gelungen ist, aber unangenehm abstrakt. Normale Reaktion: Na, und dann? Was ist das Besondere an musikalischer Zeitgestaltung?
Also, ganz langsam: Musik ist Zeitkunst. Zeit verläuft unerbittlich. Und Sie erleben musikalische Zeit auch völlig unterschiedlich; Igor Strawinsky unterschied in seinen Harvard-Vorlesungen, der »Musikalischen Poetik«, zwischen »ontologischer Zeit« und »psychologischer Zeit«. Es gibt Musik, da vergeht »Zeit« wie im Fluge, und andere, da zieht sie sich zäh dahin – nicht objektiv, aber im subjektiven Erleben. 14 Wir erleben auch Ausbreitung von musikalischer Zeit ohne spürbare rhythmische Ordnung, z. B. in der Meditationsmusik. Für uns »normal« ist in der Regel Folgendes: Zeit muss geordnet sein, um als Musik wahrgenommen zu werden. Wir identifizieren Musik als Musik auch dann, wenn sie keine Melodie hat, keine Harmonie, wenn nicht gesungen wird; ein reines Schlagzeugstück erleben wir selbstverständlich als Musik. Wie aber kommt musikalische Ordnung in die Zeit?
Die meiste Musik, die wir kennen und lieben, hat als Grundlage ein gleichmäßiges Pulsieren, den Beat, oder, gelehrter, die Zählzeit . Dieser Puls kann unterschiedliche Geschwindigkeiten haben, das sogenannte Tempo. Und Tempo ist immer mitCharakteren verbunden. Die italienischen Bezeichnungen haben sich international eingebürgert.
schwer (Grave) – langsam, breit (Largo) – ruhig, langsam (Adagio) – schreitend (Andante) – gemäßigt (Moderato) – heiter bewegt (Allegro) – lebhaft (Vivace) – rasch (Presto) – hektisch schnell (Prestissimo)
Das ist nur eine Grundkollektion von Tempo- und Charakterangaben.
In der Popmusik geht man sehr viel großzügiger damit um: zwischen downbeat bzw. down tempo, mid tempo und up tempo ist viel Achselzucken angesiedelt. Im Popfeuilleton ist gern von einer
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