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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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nicht in der vertrauten Gestalt; ich ändere zwar nichts an den Tonhöhen und nichts an der Anzahl der Töne, aber: ich ändere den Rhythmus in Richtung Rock/Pop.

    Auch Fachleute, ich habe es erprobt, haben dann größte Mühe, das zu überhaupt noch zu identifizieren. Es könnte z. B. ein Riff, eine Instrumentalfigur in einem Popsong sein, über dem sich dann eine Melodie erheben wird.

    Und umgekehrt, wenn ich den originalen Rhythmus Beethovens mit völlig willkürlichen Tonhöhen spiele, wird man ihn trotz alledem leicht wiedererkennen.
    Zur Auflockerung eine wunderbare Erinnerung von George Martin an Paul McCartney:
    »›George, ich habe mir Beethoven angehört.‹ – ›Ah ja, sehr gut, Paul,‹ antwortete ich. Er überhörte geflissentlich den ironischenTon in meiner Stimme und fuhr fort: ›Ich habe es gerade kapiert. Kennst Du den Anfang der Fünften? Das ist alles nur unsisono. Keine Akkorde. Die spielen alle die gleichen Töne.‹ – ›Stimmt, Paul‹, meinte ich. – ›Aber das ist doch phantastisch!‹, begeisterte er sich. ›Das ist ein toller Sound!‹ – ›Na klar ist es das‹, erwiderte ich. ›Das gesamte Orchester spricht mit einer Stimme – das ist genial: ta-ta-ta-taaa. Die meisten Leute merken wahrscheinlich nicht einmal, dass die alle die gleichen Töne spielen.‹ Wir sind damals nicht einmal annähernd an die Fünfte herangekommen.« 16
Beethoven und der Offbeat
    Eine der berühmtesten Melodien, eine »Menschheitsmelodie«, singbar offensichtlich von (fast) jedem Menschen in allen unseren Weltkulturen: Das ist die »Freudenmelodie« aus dem letzten Satz von Beethovens IX. Symphonie (1824), seine »Ode an die Freude« auf Verse von Friedrich Schiller. »Edle Einfalt« im Sinne von Johann Matthesons Melodielehre, ja, und aus diesem substantiell Einfachen wird eine komplexe musikalische Welt gebaut. Jetzt hat diese populäre Melodie aber einen ungewöhnlichen rhythmischen Einfall: Die hymnische, gleichmäßige Gangart wird an prominenter Stelle der Melodie durch einen O ffbeat fast verstörend unterbrochen. (Ausgerechnet bei Adaptionen dieser Melodie durch Popmusiker wird dieser Offbeat »glattgebügelt« – er scheint denjenigen, die in ihrem eigenen Metier ja von Offbeats leben, bei Beethoven zu verstörend zu sein.) Aber genau dieser Offbeat macht die Melodie endgültig unverwechselbar, und er interpretiert den Text auf einfache und zugleich geniale Weise: ál – le Menschen, das wird drastisch betont – alle, ohne Ausgrenzung, weil sie Menschen sind. Sprechen Sie einmal Beethovens Rhythmus ohne Melodie – Sie würden es kaum wagen, einen so manieristischen Akzent zu machen, aber die Musik erlaubt das, und Beethoven ist ein Meister solch planvoller Störungen.

    – http://www.youtube.com/watch?v=x_xOT-AZB9g (instrumentale Version der FREUDENMELODIE aus dem Schluss-Satz der »Neunten« ab 2’41’’)
    – http://www.youtube.com/watch?v=piJXGl8uSLU&feature=related (Chor und Orchester)
Kulurgeschichtlicher Exkurs:
Rhythmus als nicht nur musikalisches Phänomen
    Bevor wir weiter an konkreten Musikbeispielen die Vielfalt des Phänomens »Rhythmus« untersuchen, möchte ich zwischendurch einmal die große kulturgeschichtliche, ästhetische und anthropologische Keule schwingen.
    Rhythmus ist ja nicht nur ein musikalisches Phänomen. Ein Blick auf die anderen Künste zeigt: Am engsten verwandt mit der Musik ist die Sprache. Rhythmisierte Sprache ist in allen Kulturen dieser Erde selbstverständlich. Das kann schamanische Beschwörung sein, aufmunterndes Kampfes- und Kriegsgeschrei (das gilt natürlich auch für Sportstadien), das kann Lyrik sein, als »gebundene Rede« mit festen Versmaßen und Rhythmen. Das geht bis hin zu Rap und HipHop.
    Musikalischer Rhythmus und Sprache sind viel enger verwandt, als man das normalerweise für möglich hält. Wenn eine Sprache wie das Ungarische jedes Wort auf der ersten Silbe betont, dann hat das typische Rhythmen zur Folge (Achtel-punktierte Viertel-Halbe; Achtel-Viertel-Achtel-Halbe; etc.) Ob eine Sprache Artikel hat oder nicht, das ist hauptverantwortlich für das Phänomen des rhythmischen »Auftakts«, also die unbetonte Vorbereitung eines Akzents auf einer »Eins« des Taktes. Deutsch: Die / Séele be-hérrscht den / Geist. Lateinisch: ánima spíritum dóminat.
    Von der rhythmisierten Wortkunst zu den anderen Künsten: Auch bei Bildern spricht man völlig zu Recht von rhythmischen Proportionen; bei Skulpturen gehen Raum- und

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