Der Musikversteher
20. Jahrhunderts zu vergleichbaren musikalischen Strukturen an.
Durchatmen. Das war ein großer Rundumschlag, aber sicherlich nicht unwichtig.
Noch einige Besonderheiten des musikalischen Rhythmus
»Zählzeiten« in der Musik, die Beats, können grundsätzlich verschiedene Binnen-Strukturierungen haben. Fachbegriff: binär oder ternär; populär: »gerade« oder »swingend«.
Das ist grundlegend für alle Popularmusik des 20./21. Jahrhunderts. »Gerade«, binär ist die Zweifach-Unterteilung des Beats (»Latin«-Rhythmen); »swingend«, »triolisch«, »ternär« die dreifache. Natürlich kann man genau so auch mit diesen »Dreiern« Offbeats bilden; das kennen Sie aus dem Blues, aus dem Swing-Jazz und aus der Frühzeit des Rock’n’ Roll, dem Rhythm ’n’ Blues.
Jetzt ist aber diese doppelte Möglichkeit der Beat-Unterteilung, unabhängig vom Blues, in der europäischen Musikgeschichte schon seit dem 15. Jahrhundert als lebendige Vielfalt im Gebrauch. Es gibt Tanzlieder aus der Zeit um 1500 wie La Folia, »der Wahnsinn«, die beim Hören sofort I LIKE TO BE IN AMERICA aus Leonard Bernsteins West Side Story (1957) ins Gedächtnis rufen.
Ein Sechs-Achtel-Takt wird gewöhnlich in zwei mal drei Achtel geteilt (vgl. irische Folklore):
Wir hören also zwei Zählzeit-Akzente.
Möglich ist aber, bei identischem Achtel-Tempo, ebenso die Teilung in drei mal zwei Achtel:
Jetzt haben wir also drei Zählzeit-Akzente. Diese drei mal zwei Achtel können auch als drei Viertel erscheinen:
Und wenn jetzt die erste Möglichkeit mit der zweiten kombiniert wird, entsteht die wunderbar charakteristische Mischung;
Fazit: Es entsteht ein »polymetrischer« Konflikt-Rhythmus durch unterschiedlich akzentuierte Aufteilung eines 6/8-Taktes. Und dieser Konflikt ist ästhetisch aufregend, macht neugierig, macht Spaß.
– http://www.youtube.com/watch?v=oDIpSTD-hRA
– http://www.youtube.com/watch?v=JKXKkgQf51A&feature=related
Die folgenden Notenbeispiele sind wunderbare frühe Beispiele für das Abwechseln von ternär-swingenden und binär-geraden Abschnitten nach d, Beginn des Scherzos aus dem Klavierquintett f-Moll op. 34 von Johannes Brahms)
Selbstverständlich sind auch z. B. 5er- oder 7er-Unterteilungen eines Beats denkbar – das ist aber in den »U«-Genres und auch im Jazz selten. Mit »gerade«/binär und »swingend«/ternär kommt man in der Regel aus.
Betreten wir nun noch die weiten Ländereien der rhythmischen Asymmetrien
Da wären zum Beispiel noch einmal die Beatles mit ihrem unerschöpflichen Reichtum. Nicht das bereits erwähnte ALL YOU NEED IS LOVE mit dem berühmten 7/4-Takt, sondern HERE COMES THE SUN, komponiert von George Harrison.
Zwei Merkmale sind besonders auffällig: Hier gibt es eine »Polymetrik«, denn in zwei 4/4-Takte sind vier 3/8-Takte sozusagen »eingeschmuggelt« (instrumentales »fill in« nach »it’s all right«). Sie beleben die Rhythmik ungemein. Jetzt müssen Sie Ihr Kopfrechnen bemühen, denn vier 3/8-Takte, das macht insgesamt 12 Achtel, und zwei 4/4-Takte haben insgesamt 16 Achtel. Wir hören also vier mal 3/8 plus vier Achtel. Also: das »geht auf«, trotz des schönen polymetrischen Konfliktrhythmus.
– http://www.youtube.com/watch?v=EWwrhUX3iTM (0’22’’– 0’30’’ )
Die späteren Taktwechsel aber sind in diesem Song richtig kompliziert. (Wie hat Ringo das in den Körper, den Kopf und die Finger gekriegt?) Es ist wie eine Erlösung, wenn das vertraute Fahrwasser des 4/4 wieder erreicht ist. Ich habe diese Taktwechsel einmal genau ausgezählt: es sind 7/8 (4/8 + 3/8) plus 11/8 (drei mal 3/8 + 2/8), also Primzahlen wie im späteren Math Rock, plus 4/4, und das wiederholt sich als Loop. (1’29’’– 2’12’’)
Asymmetrische Takte und Taktwechsel finden wir, wie schon weiter oben angedeutet, auch bei Sting, David Bowie und bei Radiohead; von Letzteren gibt es das Stück (sehr »sophisticated«) 15 STEP, und da 15 bekanntlich drei mal fünf ist, spielt der 5/8-Takt – für den gelernten Mitteleuropäer immer nochungewohnt – eine tragende Rolle, und dieser 5/8 hat noch eine sehr differenzierte, wunderbar instrumentierte Binnenbewegung (vgl. die Analyse auf S. 261).
Und damit kommen wir endlich auch zu Igor Strawinskys LE SACRE DU PRINTEMPS (1913), zu dem Ballett, das ja für das Tanzprojekt der Berliner Philharmoniker und Simon Rattle mit Jugendlichen die Grundlage war, und an den dokumentarischen Film Rhythm Is It ist der Titel dieses Kapitels
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