Der Musikversteher
Zeiterlebnis nahtlos ineinander über. Kunstwissenschaftler achten bei Ausstellungen penibel auf attraktive Rhythmen bei der Hängung von Bildern. Für die Architektur gibt es seit dem 18. Jahrhundert die schöne Metapher: Architektur ist gefrorene Musik. Und umgekehrt hat die Musiktheorie für größere Formabschnitte selbstverständlich Architekturmetaphern.
Ein Film ohne vernünftige Rhythmisierung der Schnitte ist dilettantisch (aber da kann auch die planvolle Unvernunft, das scheinbare Chaos sehr aufregend sein, denn: Wie im Takt und wie in den Rhythmen messen wir das an unserer intentionalen Erwartung von Ordnung).
Astronomische Proportionen sind in fast 3000 Jahren Menschheitsgeschichte als musikalische aufgefasst worden. Noch Johannes Kepler beschreibt in seiner »Weltharmonik« die Umlaufbahnender Planeten um die Sonne. Und das Wunder ist bis zum heutigen Tage: Die Proportionen zwischen sonnenfernstem und sonnennächstem Punkt der Ellipsen ergeben – die physikalischen Proportionen der musikalischen Intervalle. 17
Kepler errechnete für die Erde die Proportion 15 zu 16. Wenn eine schwingende Saite in dieser Proportion geteilt wird, ergibt sich der Halbton, die »kleine Sekund«: Er ist in unserem Tonsystem das »engste« Intervall. Er ist Zeichen oft für Enge und Bedrängnis: Mit einem Halbton abwärts wird sehr oft ein musikalisches Seufzen dargestellt. In den alten Tonsilben wurden die Halbton-entfernten Tonstufen als mi und fa (z. B. die Töne e und f ) bezeichnet. Kepler konstatiert bitter, dass es kein Wunder sei, wenn die Erde diese Proportion habe, denn auf ihr herrschen mi seria et fa mes, Elend und Hunger.
Das alles geht auf den antiken griechischen Begriff der mousiké zurück, lateinisch musica – was aber nicht allein »Musik« in unserem heutigen Sinne meint, sondern viel allgemeiner: Ihre »harmonia« repräsentiert die Wohlproportioniertheit, das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen, auch die Einheit des Entgegengesetzten, nicht nur in den »Künsten«.
Und wir haben (noch in Goethes Faust !) drei Arten von »musica«: die musica mundana ist der Rhythmus, die Wohlproportioniertheit des Weltalls, geordnet in kosmologischen Zahlenverhältnissen; die musica humana ist nicht etwa die menschliche Musik, sondern die Wohlproportioniertheit des menschlichen Körpers (denken Sie an Leonardo, zu finden u. a. auf dem italienischen Ein-Euro-Stück), auch die »Harmonia« als die spannungsvoll widersprüchliche Ausgeglichenheit zwischen Leib und Seele; die musica instrumentalis schließlich ist die eigentliche Musik, wobei »instrumentalis« alles umfasst, womit Töne produziert werden, also vom Schlagzeug bis zur menschlichen Kehle – auch Gesang ist »musica instrumentalis«.
Werfen wir noch kurze Blicke über die Tellerränder der Künste: Soziale Verhältnisse sind rhythmisiert, vom täglichen Zusammenlebenbis zu den Arbeitsprozessen. Selbstverständlich sind alle biologischen Prozesse rhythmisiert, vom kleinsten Wachstum über die Jahreszeiten zu tausendjährigen Eichen etc. Den unmittelbarsten Zusammenhang erleben wir am eigenen Körper: Einatmen – Ausatmen, Links – Rechts, Herzschlag mit Systole und Diastole, Puls, Wachen – Schlafen usw. Die Medizin und die Musiktheorie des 18. Jahrhunderts greifen antikes Wissen wieder auf und sagen, dass uns die Neigung zu Zweierpotenzen »von Natur aus eingepflanzet« sei: zwei, vier, acht Zählzeiten, zwei, vier, acht Takte. Im Mittelalter dachte man anders: »Perfekt« war die Dreizahl, als Symbol der christlichen Trinität, und es dauerte lange, bis im 14. Jahrhundert die Zweizeitigkeit gleichberechtigt wurde.
Zählzeiten, Beats in eine höhere Ordnung gebracht, ergaben den Takt; Takte zusammengefasst in größere Ordnungen ergeben Rhythmus im Großen, auch Metrik genannt. Gruppen von zwei, vier, acht, sechzehn Takten: Das hören Sie bis heute in 90 Prozent der Rock- und Popmusik, in Jazzstandards; das ist aber auch eine wichtige Voraussetzung für Tanzbarkeit: Man braucht verlässliche Grenzen.
Biologische Prozesse, Körperlichkeit, Natürlichkeit – aber auch anorganische Prozesse sind oft wunderbar rhythmisiert (ich möchte hier und in der Biologie jetzt nicht auf die Fibonacci-Zahlenreihe und den in ihr repräsentierten Goldenen Schnitt eingehen, die auch in der Musik eine Rolle spielen – das sprengt unseren Rahmen). Physikalische Phänomene wie sich überlagernde Meereswellen und wandernde Sanddünen regen in der Musik des
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