Der Musikversteher
Singen, Spielen, zum Tanzen im konkreten sozialen Kontext mit genau definierten Zwecken). Die musica mensurata ist den »Gebildeten« vorbehalten (ohne soziale Differenzierung von Adel, Klerus, Bürgern); in ihr sind Grenzüberschreitungen selbstverständlich (in der dreistimmigen Motette ist z. B. möglich: ein liturgischer Tenor, die Unterstimme mit langen Notenwerten als Basis; ein lateinischer Motetus, die moralisch-belehrende Mittelstimme; ein französisches, volksmusikalisch rasch bewegtes Triplum als Oberstimme).
Heftig problematisch wird es dann, wenn die Ebene »vulgaris« (an der auch immer die derbe, manchmal obszöne Freizügigkeit der »vogelfreien« Spielleute haftet) Einzug in die Kirche findet; ein Dokument solcher Konflikte ist der Verbotskatalog des Papstes Johannes XXII. (1324), den er gegen die Stücke der Ars-Nova-Komponisten dieser Zeit verfasste; die Rede ist von »Zerschneidung liturgischer Melodien«, vom »Schlüpfrigmachen«, vom »vulgären Plattstampfen«, vom »unzüchtigen Gewimmel«, kurz: die Verknüpfung von »U« und selbstzweckhafter Kunstfertigkeit wird aus der Kirche verbannt und (wenn doch ketzerisch eingesetzt) streng bestraft.
Das um 1300 von Grocheo beschriebene Spannungsfeld bleibt für Jahrhunderte europäischer Musikgeschichte bestimmend. Die Epoche der »Niederländer«, der franko-flämischen Komponisten von Johannes Ciconia über Guillaume Dufay bis Orlando di Lasso, dauerte etwa von 1400 bis 1600. Sie bringt den Typus des sozial »niederen« bürgerlichen Komponisten hervor, der als Knabe die Bildungschance an Kathedral- bzw. Klosterschulen, dann Universitäten erhielt und später im Hof-/ Kirchendienst unterschiedlichste Gattungen komponierte: Werke (im emphatischen Sinne des Wortes) »zur höheren Ehre Gottes«, weltliche Repräsentationsstücke, differenzierte Unterhaltungskunst zum genauen Zuhören, »U«-Musik als Neben-Bei-Werk, kriegerische Musik, Musik für Pferde-Ballette (wirklich!) etc. Und die Gattungsgrenzen sind durchlässig, so dass Grundlagen sogar für Cantus-firmus-Messen »Schlager« der Zeit sein konnten (z. B. bei vielen Komponisten das Lied l’homme armé); und auch »Pöbelmusik« und Bauernmusik derben Gehalts (z. B. Jacob Obrechts Rompeltier) wurde oft und gern in weltliche Werke integriert und bearbeitet, ohne jedoch dadurch den plebejischen Stachel zu verlieren.
Systematische Anmerkungen
Im Sachteil des Riemann-Musiklexikons wird eine Negativdefinition versucht. 47 »Unterhaltungsmusik hat es zu allen Zeiten gegeben. Keine (oder nicht auch) unterhaltende Absicht haben grundsätzlich nur kultische (auch im Krieg) und liturgische Musik, die Lehrkomposition, die repräsentative Festmusik und das tragische Musiktheater.« Geht der Autor hier nur von »Darbietungsmusik« (Heinrich Besseler) aus, also von Musik, der passiv gelauscht wird? Oder meint er auch »Umgangsmusik«, bei der das Mit-Tun im Vordergrund steht? Dann gehörte ebenso die Arbeitsmusik als nichtunterhaltende dazu. Und: warum soll denn repräsentative Festmusik nicht unterhaltend sein? Warum nicht auch solche Lehrkompositionen wie die Bach’schen Inventionen? Alle systematischen Unterscheidungen, die in der Regel dichotomisch argumentieren, greifen notwendig viel zu kurz.
Kann das Begriffspaar »autonome Musik – funktionale Musik« auf »E« und »U« projiziert werden? Klare Aussage: Nein. Nicht alle funktionale Musik muss notwendig unterhaltend sein, ihre Zwecke können völlig anders definiert werden (zum Marschieren, zur Andacht, zur Beruhigung im Fahrstuhl); und nicht alle »autonome« – d. h. sich selbst frei bestimmende – Musik verzichtet dadurch auf mögliche unterhaltende Wirkungen.
Funktionale, zweckgebundene Musik kann ihre Funktion von außen auferlegt bekommen, kann sie aber auch sich selbst auferlegen. Ihre »Funktionalität« kann im Bereich von »Darbietung« ebenso wie im »Umgangs«-Bereich angesiedelt sein.
Muss bei fremdbestimmter funktionaler Musik davon ausgegangen werden, dass hier mit einem legitimen Unterhaltungsbedürfnis Schindluder getrieben wird? Zweifellos war ein Komponist, der im Adelsauftrag eine Orchestersuite schrieb, nicht »frei«, aber doch autonomer als Komponisten und Komponistinnender Gegenwart, die eine Werbebotschaft für Kino, Funk und Fernsehen musikalisieren.
Hanns Eisler sah im selbstgesetzten »gesellschaftlichen Auftrag«, in »Angewandter Musik« die Möglichkeit zur Überwindung der Gräben zwischen »E« und
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