Der Musikversteher
Filmmusik, unnachahmlich gekonnt und raffiniert gemacht und großartig popular gleichzeitig etwa bei Ennio Morricone; auch Elvis ist da, und ONLY YOU lässt sich nicht abweisen; die Beatles, übermächtig, und ich gehe ans Klavier, versuche, MICHELLE zu spielen (und merke, dass auch Ohrwürmer ziemlich komplex angelegt sein können); noch platter, trivialer, fast schäme ich mich, aber es ist lebendig, Ton für Ton, Caterina Valentes ITSY BITSY TEENIE WEENIE … Verzeihung, Pierre und Karlheinz, aber der Honolulu Strandbikini scheint fürs musikalische (Unter-)Bewusstsein tragfähiger zu sein als PLI SELON PLI oder AUS DEN SIEBEN TAGEN.
Schon im Kapitel über Grenzen und Grenzüberschreitungen war konstatiert worden, wie problematisch die Abrechnungskategorien der GEMA, E- und U-Musik sind. Dass eine erheblich komplexere Musik mit einem ungleich höheren Grad an nötiger Vorbildung und einem unvergleichlich höheren Arbeitsaufwand beim Komponieren auch sehr viel höher bewertet werden muss, daran kann gar kein Zweifel bestehen. Aber komplexe Musik kann sehr unterhaltend und fröhlich sein und dennoch mit hohem Aufwand komponiert – ebenso können in den sogenannten »U«-Genres sehr ernste und traurige Stücke vorkommen.
Lob der »schlechten Musik«
Der Riss zwischen »E« und »U« geht mitten durch mich hindurch. Es wäre verwunderlich, wenn dieses komplexe Bündel an Widersprüchen sich in meinen künstlerischen und wissenschaftlichen Produkten nicht wiederfinden ließe. Es muss in mir selbst Wünsche, Vorlieben, Bedürfnisse, Emotionen geben, die von dieser U-Musik – und nur von dieser! – angesprochen werden. Ist es die Lust am Trivialen, die Sehnsucht nach einem (in meinem sozialen und künstlerischen Umfeld) eigentlich Tabuisierten? Offensichtlich hat diese Musik Qualitäten, die in den Genres der »E«-Avantgarde schlicht fehlen. Von unglaublicher Aktualität sind die Anmerkungen Marcel Prousts in seiner »Lobrede auf die schlechte Musik«, in Les Plaisirs et les Jours, Freuden und Tage, 1896 geschrieben:
»Verabscheut die schlechte Musik, aber verachtet sie nicht. Da man sie häufiger spielt oder singt (und leidenschaftlicher als die gute), hat sie sich mehr und mehr gefüllt mit den Träumen, mit den Tränen der Menschen. Daher sei sie euch verehrungswürdig. Ihr Platz ist sehr tief in der Geschichte der Kunst, hoch aber in der Geschichte der Gefühle in der menschlichen Gesellschaft. Die Achtung (ich sage nicht die Liebe) für schlechte Musik ist nicht allein eine Form dessen, was man die Barmherzigkeitdes guten Geschmacks oder seines Skeptizismus nennen könnte, vielmehr ist es das Wissen um die soziale Rolle der Musik. (…) Das Volk, das Bürgertum, die Armee, der Adel, sie haben immer die gleichen Briefträger und Träger der Trauer, die sie trifft, und des Glücks, das sie erfüllt, sie haben auch die gleichen unsichtbaren Liebesboten, die gleichen vielgeliebten Beichtväter. Es sind die Komponisten der schlechten Musik. Hier dieser grauenhafte Refrain, den jedes gut veranlagte und gut erzogene Ohr beim ersten Hören von sich weist, er bewahrt das Geheimnis von Tausenden von Lebensläufen; er war ihnen blühende Inspiration und Trost.« 46
Prousts Lob der schlechten Musik trifft auf Trivialmusik bis in die unmittelbare Gegenwart zu. Aber »U« ist ja nicht gleichbedeutend mit »schlecht«. In dieser Musik gibt es (wie im »E«-Bereich!) horrende Qualitätsunterschiede, strukturell wie inhaltlich. Ist die Tatsache, dass auch komplexe, originelle Stücke verschiedener »U«-Genres massenhafte, millionenfache Verbreitung finden, nur auf besonders geschicktes Marketing zurückzuführen? Erstaunlich (und für linke Kulturkritiker kaum zu begreifen), dass, trotz eines nahezu totalen musikalischen Analphabetismus und flächendeckender Marktbeherrschung durch wenige Konzerne, die sinnliche Kraft und das Überzeugungsvermögen eines Sting oder einer Björk, die Raffinesse eines Prince und die schnoddrige Lakonik eines Lindenberg sich durchzusetzen vermochten.
Soll sich nun die »E«-Avantgarde (wer bestimmt eigentlich, wo bei diesen Militär entlehnten Begriff »avant« »vorn« ist?) in die staatlich hoch subventionierte Schmollecke esoterischer Zirkel zurückziehen und dabei – im besten Falle! – auf dem von Adorno vorgedachten Wahrheitsanspruch der eigenen Kunst bestehen? Zeigt die postmoderne »Revolte« der siebziger/achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts mehr als den Versuch, den
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