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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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»U«. Bei ihr werden in verschiedenen Genres der Musik verschiedenes musikalisches Material und verschiedene Komplexionsgrade eingesetzt: Ein Wiegenlied dient anderen Zwecken als ein Streichquartett oder ein Kabarett-Chanson und hat folglich ein völlig anderes musikalisches Material. Aber Eisler rief angesichts der allgemeinen »Coca-Colaisierung« der funktionalen Musik verzweifelt nach l’art pour l’art, der »Kunst um der Kunst willen«, einem Prinzip, das er noch in den zwanziger Jahren heftig bekämpft hatte. Das aber bedeutete für ihn nicht den Verzicht auf Funktionalität, sondern ein striktes Sich-Abgrenzen gegen Fremdbestimmung, auch gegen die politische. 48
Historischer Exkurs 2
    Das 18. Jahrhundert, schwankend zwischen noch selbstverständlichen Privilegien der Adelskultur und Emanzipation des Bürgers, sozial wie kulturell, zeichnet auch in Musik und Musiktheorie diese Prozesse nach. Unterhaltungsmusiken der »galanten« Zeit ab 1720, später der frühklassischen und klassischen Epoche, sind in der Regel geeignet für die unverbindliche Zerstreuung von Adel und reichem Bürgertum: Divertimenti, Partiten, Cassationen und Serenaden passen sich diesem Zweck an. Zugleich aber wohnt der »U«-Musik, gerade der plebejisch geprägten, wie schon in den vergangenen Jahrhunderten eine soziale Sprengkraft inne. Das Prinzip des »Popularen« meint immer auch das Allgemein-Menschliche, das Natürliche, getragen von aufklärerischem und demokratischem Denken und Fühlen. Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder formulieren den neuen, emphatischen Begriff der Autonomie des Menschen, der Völker. Die noble simplicité, die edle Einfalt bezeichnetein wesentliches Moment der Befreiung von Bevormundung durch Adel und Kirche. Johann Mattheson lieferte in der Melodielehre seines Vollkommenen Capellmeisters (1739) einen ausgezeichneten Einblick in die neuen Wertvorstellungen (vgl. das »Ohrwurm«-Kapitel, S. 46).
    Dass nun ausgerechnet das Menuett, ehedem Hoftanz des Sonnenkönigs, zum Inbegriff bürgerlicher edler Einfalt und somit auch zentraler Gegenstand der Kompositionslehre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde, gehört zu den Paradoxien der Musikgeschichte. Die Tatsache, dass »Kontertanz« (Country dance) und »Deutscher« (Vorläufer des Walzers) später das Menuett an Beliebtheit übertrafen, ändert nichts an dessen grundlegender Bedeutung. Der Übergang des Menuetts in den raschen Scherzotypus ist – gerade bei Beethoven – sicherlich auch der Erfahrung französischer Revolutionslieder im raschen 6/8-Takt zu danken; da war beispielgebend natürlich die carmagnole. Ihr ist auch in der Marsch-Episode im Schluss-Satz der IX. Symphonie eine Reverenz erwiesen: FREUDE, SCHÖNER GÖTTERFUNKEN wird zum revolutionären Geschwindmarsch FROH, WIE SEINE SONNEN FLIEGEN.
    Kaum ein Komponist erfuhr die Komplikationen bürgerlicher Emanzipation so hautnah wie W. A. Mozart. Die Selbstverständlichkeiten seiner Salzburger Dienste bei Hofe umfassten auch fein ziselierte Unterhaltungsstücke wie die Divertimenti KV 205 (1773) und KV 247 (1776), oder die »1. Lodronische Nachtmusik« für die Gräfin Antonia Lodron. Mozarts Zwiespalt belegen zahlreiche Dokumente. Seine Probleme mit dem Adel (besonders dem klerikalen) sind überdeutlich; zur Erinnerung sei hier Mozarts Äußerung nach dem Salzburger »Knall« um Erzbischof Colloredo und Graf Arco zitiert: »Das Herz adelt den Menschen; und wenn ich schon kein graf bin, so habe ich vielleicht mehr Ehre im Leib als mancher graf; und hausknecht oder graf, sobald er mich beschimpft so ist er ein hundsfut.« 49
    In seiner Wiener Zeit komponierte Mozart Dutzende Tanzmusikstückefür den Kaiserlichen Hof, und das war ihm Ehre und Spaß (und es brachte gutes Geld).
    Es gibt durchaus den Gegensatz zwischen »Popular« und »Gelehrt«, zwischen »Unterhaltung« und »Experiment«; ihn gibt es in jeder Komposition Mozarts. Nur: er wird begriffen als ein dialektisch-lebendiges Widersprüchliches, aus dessen Binnenspannung dramatugische Konsequenzen gezogen werden. Was Mozart über seine Klavierkonzerte KV  413–415 schrieb, gilt allgemein für sein ästhetisches Credo: »Die Concerten sind eben das Mittelding zwischen zu schwer und zu leicht – sie sind sehr Brillant – angenehm in die ohren – Natürlich, ohne in das leere zu fallen – hie und da – können auch kenner allein satisfaction erhalten – doch so – dass die nichtkenner damit zufrieden seyn

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