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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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aber noch als sie ist der Verzicht auf sie. Was wäre Musik ohne ihr dionysisches, ihr sinnlich-rauschhaftes Potential?
    4. Ira: Zorn und Rachsucht
Über die »Volkstümlichen Musikanten« und ihre Pseudo-Volksmusik rege ich mich auf. Da werde ich rachsüchtig. Auch beim Schleim-Schlager werden Seiten in mir angeregt (musikalischer: Saiten), die ich als friedliebender Mensch eigentlich unter Verschluss halten sollte. Zorn ist aber seit Hunderten von Jahren ein Affekt, der von Komponisten gern in der Musik dargestellt wird. Warum also nicht auch Zorn über Musik?
    5. Gula: Völlerei und Maßlosigkeit
Schlimmer als Maßlosigkeit ist der Verzicht aufs Grenzüberschreitende, das Verwechseln von Maß mit Mittelmaß, der ewig laue »30-Grad-Handwarm-Stil«, sowohl in den Kompositionen als auch in den Interpretationen. Wie sagte Arnold Schönberg so schön: »Der Goldene Mittelweg ist der einzige, der nicht nach Rom führt.«
    6. Invidia: Neid und Missgunst
Eine weitere allgemeine gesamtgesellschaftliche Geschäftsgrundlage, also auch und gerade die des Musikbusiness. 7. Acedia: Trägheit des Herzens Ich werde unsatirisch ernst, mahnend gegen die Vergleichgültigungen: die Gleichgültigkeit der Macher gegenüber den Hörern; die Gleichgültigkeit der Hörer gegenüber den Machern; die Gleichgültigkeit der Interpreten gegenüber den Werken und den Komponisten, und die Gleichgültigkeit der Komponisten gegenüber den Hörern und den Interpreten.
    8. Langeweile
Die eigentliche, die wirklich wichtigste Todsünde jeder Kunst. In der Regel eine Schwester der Vergleichgültigung. Aber auch hier der Proust-Widerspruch: was für mich (und meine Werturteile) tödlich langweilig ist, kann andere Hörer zu Tränen rühren. Und eine differenzierte und komplexe Musik kann so überfordernd sein, dass nur noch der sprichwörtliche »Bahnhof« verstanden wird. Auch aus Überinformation kann Langeweile entstehen. Produktionsästhetisch darf, nein: muss ich Kitsch-, Schmus- und Schundprodukte, handwerklich missratene Stücke kritisieren; rezeptionsästhetisch muss ich akzeptieren, dass auch kalkuliert hergestellte »große falsche Gefühle«, dass sogar »Plastikherzschmerz« zu Empathien wirklich tiefer Gefühle führen kann.
Historischer Exkurs 1
    Analytische Blicke in die Geschichte sind in der Regel hilfreich für die relativierende Bestimmung der eigenen Position. Gibt es ein »lost paradise«, datierbar vor dem »Sündenfall« der Trennung von »E« und »U«? Anzusiedeln wäre dieser Sündenfall in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo auf der einen Seite die industrielle Herstellung massenhafter trivialer Musikware (verbunden mit neuen Möglichkeiten technischer Reproduzierbarkeit und spezialisierten Produzenten) sich etablierte, auf der anderen Seite die Kunst-Religion Richard Wagners, des ersten Komponisten, der keine Unterhaltungsmusik mehr verfasste,sich konstituierte (noch Johannes Brahms schrieb zahlreiche »U«- und Gebrauchsmusik).
    Die zu verifizierende These ist, dass immer ein Spannungsfeld zwischen »E« und »U« existierte, dass aber diese Spannung im Sinne von »Harmonia« als ein Aufgehobensein in ein widersprüchlich-lebendiges Ganzes aufzufassen ist. Historisch zurückgehen möchte ich (Verzeihung!) bis ins 13. Jahrhundert, wo sich, primär in Paris und Oberitalien, eine zwischen Klerus, Adel und frühbürgerlicher Emanzipation angesiedelte Musikkultur herausbildete. Das hervorragendste Zeugnis dieser Epoche ist der Traktat De musica von Johannes de Grocheo (Paris um 1300), der mit Kategorien der aristotelisch-arabischen Philosophie ein Gesamtpanorama sämtlicher Musikarten entwirft; Musik wird begriffen sowohl als Zahlenkunst im Sinne der antiken »artes liberales« als auch als »scientia media« zwischen Mathematik und Physik als auch als Kunsthandwerk und soziales Phänomen, bei dem die soziale Funktion als strukturdeterminierend aufgefasst wird. Systematisch unterschieden sind die liturgische musica ecclesiastica, die einstimmigen Typen der musica civilis/vulgaris und die mehrstimmige musica mensurata . Sehr aufschlussreich nun die Differenzierung der musica civilis (nicht etwa als »bürgerlich« zu übersetzen, sondern – aristotelisch – »das regulierte Zusammenleben der Menschen betreffend«): Hier werden unterhaltende Gattungen differenziert nach sozialem Ort (Adel, reiches Bürgertum, niederes Bürgertum, arbeitende Bevölkerung, ländliche Jugend etc.) und Funktion (zum Zuhören, zum

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