Der Musikversteher
bürgerlichen Konzertsaal zurückzuerobern? Kann das Nachdenken über die eigene Situation, über die (scheinbar) unüberwindliche Kluft der musikalischen Spartierungen, über die Zwiespälteim eigenen Bewusstsein dazu beitragen, zementierte Positionen aufzubrechen, aus starrem Nebeneinander ein lebendig-widersprüchliches Miteinander zu machen? Schließen Kunstanspruch und »U«-Bedürfnisse einander a priori aus?
Die achte der Sieben Todsünden in der Musik
Wir lieben Musik, hassen Musik, wir bewundern Musik, verachten Musik. Welche Musik? Warum? Wer sind »wir«? Wen lässt welche Musik völlig gleichgültig? Was regt mich an, was regt mich auf?
Aufregend anregend – ein genialer Song von Queen, ein Satz aus einem Streichquartett von Mozart, ein aufwühlender Abschnitt aus Igor Strawinskys LE SACRE DU PRINTEMPS, ein Viertelstündchen in einem Wagner-Musikdrama, eine Filmmusik von Ennio Morricone.
Weil das Leben so schrecklich kompliziert ist, soll es in der Musik durchaus häufig vorgekommen sein, dass Stücke zu Hits wurden, die in sich auf wundersame Weise alle musikalischen Todsünden vereinigen: Sie sind dumm, billig geschustert, sie sind bequem, erfüllen nur Klischees, sie sind verlogen, langweilig etc.
Seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde ja nicht nur (wie bereits festgestellt) in Deutschland das beliebte Brett vorm Kopf durch Bohlen ersetzt – CHERRY CHERRY LADY z. B. war ein internationaler Hit. Jetzt könnte ich frohgemut den Sponti-Wandspruch aus dieser Zeit bemühen – ESST MEHR SCHEISSE, MILLIARDEN FLIEGEN KÖNNEN SICH NICHT IRREN. Das wäre aber viel zu einfach, sagt mir mein kritisches Urteilsvermögen, und es versucht, Kriterien und objektivierbare soziale, kulturelle, ökonomische, ästhetische Begründungen für solche Erfolge zu finden. Das könnte gelingen, ist aber schrecklich mühsam, und so begnüge ich mich damit, meinem spontanen Werturteil zu folgen und mich dem Sponti-Spruch anzuschließen. Aber auch da kann ich michnicht dagegen wehren, über Sinn und Notwendigkeit von Scheiße nachzudenken. Wo sind die Maßstäbe? Ich brauche ein Dieter-Meter . Noch ist Bohlen nicht verloren.
Aber, so unangenehm das für mich ist: Es gibt ja – umgekehrt – auch Musik, die fast keine der Todsünden aufweist: sie ist klug, gut gemacht, klischeelos anspruchsvoll, wahrhaftig – aber mehr auch nicht. Sie ist langweilig. Bei einer solchen Musik muss ich mir eingestehen, dass ihr Misserfolg in meinem Wertesystem ebenso schwer erklärbar ist wie der Erfolg von Schrott-Produktionen eines Dieter Bohlen, Scooter, James Blunt.
Gegenwärtig listet die katholische Kirche folgende sieben Tod- bzw. Hauptsünden auf: Stolz, Habsucht, Neid, Zorn, Unkeuschheit, Unmäßigkeit, Trägheit oder Überdruss. Meine Nr. 8, die Langeweile, fehlt in dieser Aufzählung. Langweilige Menschen sind ebenso häufig anzutreffen wie langweilige Musik.
Die SIEBEN TODSÜNDEN DER KLEINBÜRGER von Bertolt Brecht und Kurt Weill seien, mit ihren herrlich satirischen Umwertungen der sündigen Un-Werte und Werte, das Vorbild für das nun kommende knappe Unterfangen. Gehen wir die stolze Liste durch, beziehen wir ihre Abteilungen auf die Schutzbefohlene der heiligen Caecilie, die vielgeliebte Frau Musica (der wird ja, neben Tausenden anderer Affären, ein Verhältnis sowohl mit Bohlen als auch mit Bushido als auch mit Heino nachgesagt):
1. Superbia: Hochmut, Eitelkeit, Stolz
Dummheit und Stolz: die wachsen bekanntlich auf dem selben Holz. Der Hochmut ist bei den Castingshows in der Regel auf der Seite der Jury, nicht der Kandidaten zu finden. Die leere Eitelkeit, die vanitas , als Signatur des sinnlos-vergeblichen Strebens blinkt aus dem Outfit sowohl von zahlreichen Pop-Sternchen als auch von so manchen Super(nova)-Stars.
2. Avaritia: Habgier und Geiz
Habgier ist zugleich eine altmodische Todsünde und die allgemeine Geschäftsgrundlage nicht erst des modernsten Kapitalismus;sie verkörpert sozusagen den Kapitalistischen Realismus, wie uns diverse Bankenkrisen und ganze Völker ins Unglück stürzende Warenspekulationen täglich zeigen. Die Musikindustrie, zu großen Teilen schon in den Händen von Private-Equity-Firmen, steht da nicht zurück. Hier schon ein Vorverweis auf das erste Musikmärchen im II. Teil dieses Buches. Aber Geiz? Heutzutage ist doch Geiz geil, und Geilheit kommt erst in der nächsten Abteilung.
3. Luxuria: Wollust und Genuss-Sucht
Da ist sie, die Geilheit; böse, böse. Viel schlimmer
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