Der Musikversteher
unerfüllbare Liebe, um eine zufällige Begegnung in der Menge mit einem Moment des Einverständnisses, dem Hauch eines Glücksversprechens. Das Video endet mit dem Sprung ins Wasser aus schwindelnder Höhe. Was macht man, um Emotionen noch kräftiger zu rühren? Man greift zu Synthie-Klängen und Streicher-Sounds und man verdoppelt die Stimme zu einem Chor-Effekt.
Als Resultat bleibt eine sehr schmusige Melancholie – süße Trauer in Dur; nervig auf jeden Fall, schon wegen der permanent wiederholten BEAUTIFUL-Dreiklänge. Aber dadurch ergibtsich auch ein garantierter Ohrwurmfaktor. Leute, die sich auf das Video beziehen und behaupten, sie würden wegen des Songs ins Wasser springen, sind frech und gemein.
Michael Jackson BILLIE JEAN (1982)
– http://www.youtube.com/watch?v=WXOtgk1Erco
Elton Johns Song NORMA JEAN war Marilyn Monroe gewidmet: Gemeint war der Mensch Norma, nicht die Kunstfigur Marilyn mit dem Künstlernamen. Auch der King of Pop widmete seinen Song (geschrieben für das Album Thriller von 1982) einer Frau mit ähnlichem Namen: »She was more like a beauty Queen from a movie scene.« Sie war allerdings keine unter ungeklärten Umständen verstorbene Film-Ikone bzw. eine rosengleiche Ikone aus einer königlicher Familie, die unter geklärten Umständen starb; Michael Jackson besang eine imaginäre, allerdings aus mehreren realen Personen zusammengesetzte, ihn bedrohende Figur, offensichtlich eine Stalkerin. Mit ihren Wahnvorstellungen sorgte sie nicht allein für Belästigungen, sondern für reale Gefährdungen. Und das verstörte ihn offensichtlich so sehr, dass er die gesamte Story in einer gewaltigen Textmenge verarbeitete.
BILLIE JEAN ist ein sehr deutlicher Beleg für die Tatsache, dass in der Popmusik häufig die Originalität primär im Arrangement zu finden ist, im Sound, hier speziell in der Artikulation der rhythmischen Ereignisse. Alle rhythmischen Patterns, die hier vorkommen, sind bekannt: aus lateinamerikanischer Musik, aus dem Rock ’n’ Roll, dem Soul, auch aus dem Funk und der Discomusik (aus der übrigens auch die typischen kurzen, »kommentierenden« abstürzenden Sechzehntel-Figurationen der Violinen bei 3’05’’ stammen: d 3 -b 2 -g 2 -es 2 -/d 2 , und Triller auf d 2 «).
Aber wie Michael Jackson das sängerisch artikuliert (und wie auch im Instrumentarium diese Artikulation hörbar wird), das bewirkt eine individuelle Unverwechselbarkeit, auch dencharakteristischen »groove« dieser Musik. Das hat nichts mit dem Tempo zu tun: das ist hier durchaus gemäßigt, moderato (ca. 114 bpm). Die kurz angerissenen, sofort abgestoppten Offbeats aber sind ein »Markenzeichen«.
Auffällig auch, dass und wie die Sprache schlagzeugähnlich behandelt wird, besonders auf der Ebene der kleinsten, raschesten Notenwerte, der Sechzehntel mit ihren Synkopen und Offbeats. Die Geräuschhaftigkeit des Sprechsingens entspricht aber nicht simpel den Möglichkeiten eines »normal« mit Sticks (Schlägeln) bedienten Drumsets, sondern hier sind schon z. B. Stahlbesen gefragt, die zischelnd, reibend und schlagend über die Snaredrum (kleine Trommel mit Schnarrsaite), TomToms und diverse Becken jagen – Dinge, die Jackson primär aus dem Jazz-Schlagzeug-Repertoire abruft, die aber genau so auch in der »E-Avantgarde-Musik« zu Hause sind.
Das gesamte Stück hat als harmonische Grundlage die Pendelharmonik: hier zwischen g-Moll und seiner iv. Stufe, der Subdominante c-Moll. Ostinate Tonfolge mit »Latin«-Rhythmus:
Ab 1’54’’, dann noch einmal ab 2’19’’ erklingt ein Streicher-Kontrapunkt, der aus dem bisherigen g-Moll (Äolisch) das Dorische macht, indem der 6. Ton der Skala jetzt nicht mehr es, sondern e ist – in diesem insgesamt sehr homogenen Stück eine eigentlich nur kleine Klangvariante, die aber in diesem Kontext auffällt.
Nicht nur in diesem Song gründet die Originalität von Michael Jackson weniger auf strukturellen Eigenschaften der Melodik, der Rhythmik oder der Harmonik als auf den Raffinessen des Sounds und seiner sehr individuellen (schlagzeugnahen) Artikulation von Sprache.
4. Einsteiger, Aussteiger. Musikalische Überlebensvielfalt
Gunter Gabriel HEY BOSS, ICH BRAUCH MEHR GELD (1974)
– http://www.youtube.com/watch?v=pngkz48xwG0
Das Image des »ehrlichen Singer/Songwriters« war aus den USA auch zu uns herübergeschwappt. Und »ehrlich«, das bedeutete: im Inhaltlichen geradeheraus, ungeschminkt Auskunft über sich und die Verhältnisse zu geben –
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