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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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arg dilettantischen Komponisten und Performer, dem es schwer gefallen ist, die Gitarre sauber zu stimmen. Wie kommt es, dass die offensichtlichen Unzulänglichkeiten dennoch zu einer Unverwechselbarkeit führen?
    Die Intro (0’00’’– 0’24’’) sagt: Ich bin Blues. Harmonisches Pendel IV – I mit typischen Figurationen und Blue Notes. Wenn der feste Rhythmus einsetzt (bei 0’17’’), kommt ein weiteres typisches Blues-Pattern als Begleitungsmuster: die »Wechselnote«, hier in B-Dur zwischen dem Terzton d und der Quarte es.
    Die erzählenden Strophen zeigen dann offen ihre nächste Diskrepanz. Riesige Mengen Text werden auf eine winzige Menge musikalischer Substanz gestülpt.
    In den Strophen 1+2 (0’22’’– 0’59’’) finden wir nichts als das klassische 12-taktige Blues-Schema, ohne auch nur einen Hauch von Individualisierung. Die kommt allein durch den Text und die knarzend-unsaubere Singweise. Erzählt wird von einer persönlichen Ausnahmesituation, mit vielen biblischen Symbolen aus der jüdisch-christlichen Tradition. Das 12-taktige Blues-Schema wird gnadenlos fortgesetzt, auch in jeder Bridge.
    Der Song ist unglaublich schematisch aufgebaut: »Intro« + 3 Strophen – 1. Bridge + 3 Strophen – 2. Bridge + 3 Strophen – 3. Bridge + 3 Strophen – »Outro«.
    Immerhin: Die Zwölfzahl der Strophen entspricht fast kabbalistisch den 12 Takten des Blues-Schemas.
    Der Text ist formal ebenfalls ziemlich schematisch, aber inhaltlich sehr komplex, bis hin zu einem verfremdeten Erntedankfest am Schluss.
    Die Musik ist, urheberrechtlich gesprochen, eigentlich gar nicht von Bob Dylan, sondern reproduziert nur einfachste Blues-Klischees. Eine musikalische Individualisierung fällt aus. Dafür gibt es sie im Übermaß im Text.
John Lennon: HAPPY X-MAS (War Is Over – 1971)
    – http://www.youtube.com/watch?v=hb2YSAVHmIE
    Das Weihnachtslied als alljährliche Herausforderung – was nehmen wir bloß? Hier immerhin bei John Lennon und der Plastic Ono Band: Weihnachten mit sozialem und politischem Sprengstoff von 1971, kurz vor dem Höhepunkt des Vietnamkriegs.WAR IS OVER IF YOU WANT IT. Der Song schlägt (wie beim tapferen Schneiderlein) sieben Fliegen mit einer Klappe, ist aber leider von Peter, Paul und Mary abgekupfert – Basis ist ein Folk Song aus dem 19. Jahrhundert, den auch andere schon (nach)gesungen haben.
    In Strophe 1 (0’00’– 0’21’’) haben wir drei Akkorde als Turnaround für die Strophen und den ganzen Song, Melodie bei Peter, Paul und Mary (»Stewball«, ein trunksüchtiges Pferd) und John fast identisch. Neu ist immerhin ein instrumentaler Kontrapunkt, der später für den mitwirkenden Chor aus Harlem wichtig wird. Bei der Wiederholung dieses Teils geht Lennon jetzt eine Quarte höher: von A-Dur nach D-Dur. Achten Sie beim Hören auch auf den langsamen Beat, der in Dreier-Gruppen unterteilt wird (0’20’’– 0’41’’).
    Bei 0’40’’ hat der Chorus mit Yoko und dem Kinderchor begonnen: noch eine Quarte höher, nach G-Dur, und dann kontinuierlich wieder zurück zur nächsten Strophe in der alten Tonart (G-Dur, D-Dur, A-Dur).
    Wir sind wieder daheim. Und der Text backt nicht mehr weihnachtliche Allgemeinplätzchen, sondern geht sozial und politisch zur Sache. Musikalisch nichts Neues. In zahlreichen Versionen dieses Songs singt der Chor den ursprünglich instrumentalen Kontrapunkt auf den Text War Is Over . Aber auch das kommt in allen Versionen – ganz am Schluss, in der Coda (3’00’’– Schluss).
    Ein großes Anliegen – die weihnachtliche Friedensbotschaft wird ernst genommen. In der Musik leider nicht. Der Song ist definitiv abgekupfert, und das nicht einmal originell. Wir hören Wiederholungen ohne Varianten – als ob Johns Kreativität aus der Beatles-Zeit versiegt sei. Immerhin: Der Kontrapunkt und die harmonischen Transpositionen sind anders als bei Peter, Paul and Mary. Für mich ein, wenn auch schwacher, Trost.
U2 GET ON YOUR BOOTS (2009)
    – http://www.myvideo.de/watch/5918186/U2_Get_on_Your_Boots
    Es gibt zahlreiche Vorbehalte, ja Vorurteile gegenüber U2: Leeres »Gutmenschentum« und »Mainstream-Pop mit Breitwandmelodien«. Was ist dran?
    In der Intro und im ersten Teil der Strophe (0’00’’– 0’20’’) haben wir rasches Tempo (Viertel etwa 150 bpm); charakteristisch reduzierten Klang, »pentatonische« Patterns in Gitarre/ Bass und Stimme, ohne jeden Akkord: Wir hören eine d-Moll-Pentatonik, zu Beginn mit den

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