Der Musikversteher
individuellen musikalischen Mittel, und sie appellieren immer auch an die Intelligenz der Hörer.
3. Kitsch und Kunst. Wer spinnt und kann das zu Gold machen?
Felix Mendelssohn Bartholdy HOCHZEITSMARSCH (1842)
– http://www.youtube.com/watch?v=z0wmzoHd6yo&feature=related
Zwei Hochzeitsmärsche deutscher Komponisten des 19. Jahrhunderts haben sich weltweit als repräsentativ für Prunkhochzeiten großen Stils sehr bewährt.
Aber sogar bei ausgeflippten Punkhochzeiten groben Stils sollen diese Musiken schon aus Ghettoblastern vernommen worden sein: Felix Mendelssohn Bartholdys festlicher MARSCH aus seiner Schauspielmusik zu Shakespeares Ein Sommernachtstraum und Richard Wagners HOCHZEITSMARSCH aus seiner Oper Lohengrin . (Tröstlich, dass bei unseren gegenwärtigen Hochzeiten fast niemand weiß, wie da das Schwanenritter-Abenteuer ausgegangen ist; man würde das Stück wohl nicht spielen. Eine heutige Elsa von Brabant würde sich allerdings strikt davor hüten, ihren Lohengrin in der Hochzeitsnacht zu fragen, wessen Geschlechts er sei.)
Bei Shakespeare/Mendelssohn geht alles gut. Aber Felix war schlitzohrig: Die Trompeten schmettern zu Beginn (bis 0’20’’) ihre C-Dur-Fanfare als königliches Signal eines aufsteigenden Dreiklangs genau so, wie das zu erwarten ist, aber: Wenn das Spitzen-c 2 erreicht ist, klingt nicht etwa der majestätische C-Dur-Dreiklang darunter, sondern das c 2 ist Bestandteil eines »halbverminderten Septakkords« auf Fis (in anderer Bezeichnungsweise auch als a-Moll 6# möglich); der geht per Quintfall von Fis nach H 7 und e-Moll, findet dann mit einem zweiten Quintfall über d-Moll und G die Heimat C-Dur wieder. Ziemlich kompliziert.
Was wird hier nun musikalisch beschrieben: die Irrungen/Wirrungen vor der Hochzeit oder die zu erwartenden danach ? Es gibt zwar Kontrastteile (der erste bei 1’30’’; der zweite bei 2’22’’); aber beide Kontrastteile finden, bei allen Umwegen und drohenden Abgründen, immer wieder zurück in die geordneten Bahnen des hochadeligen Täterätä. Über dessen selbst inszenierten Pomp belustigte sich der feinsinnig-aufgeklärte Bürger Mendelssohn offensichtlich auch leicht ironisch.
Elton John: CANDLE IN THE WIND (1974/1997)
– http://www.youtube.com/watch?v=s29vt_21NCI
Das ist die »sachliche« Norma-Jean-Version – eine würdigende Ehrung von Marilyn Monroe. Aber auch die ist schon so zuckersüß (mit bösen Ohren geschmeckt: sogar saccharinsüß), dass ich die Hookline immer gern intentional hörte: Like a Candy in the Wind .
Wer die originale Diana-Begräbnis-Version auf einem schlecht gestimmten Flügel hören will, hier ist sie: Goodbye, England’s Rose ( http://www.youtube.com/watch?v=wdrRLTgavus&feature=related ).
Ja, Norma Jean wird ausschließlich als Opfer stilisiert, und bei Lady Di wird noch dicker aufgetragen. Das steht in einer Tradition, die schon der große Philosoph und Musiktheoretiker Johannes de Grocheo in Paris um 1300 in seinem Musik-Traktat De musica beschrieb (vgl. S. 195): Es ist das Genre der »Chanson de geste«. In diesen ausführlichen Gesängen wird auf anrührende Weise vom Schicksal von Großen (herrscherlichen Frauen wie Männern) berichtet, davon, welchen Schrecken sie ausgeliefert waren, wie sie gelitten haben. Und das, so Johannes de Grocheo bemerkenswert nüchtern, lenkt die Zuhörer vom Elend, in das sie selbst hineingeboren wurden, ab.
Elton John erzählt seine »Chanson de geste« als Popballade mit typischen Klavierfigurationen, die »in den Pfoten liegen«, wie man in der Branche sagt: so der Gang von der tonikalen I in die subdominantische IV mit einer Vier-Achtel-Kette mit»Quartvorhalt« (hier also von E-Dur mit den Tönen a 1 -gis 1 -e 1 -h nach A-Dur). Auch die hinzugefügte Sekunddissonanz in den Akkorden der I und der IV ist typisch Pop-balladesk, ebenso das sanft-moderate Schwingen des Zwei-Halbe-Takts (2/2); die raschen Viertel sind zwar spürbar, aber nicht sie werden als Beat, Zählzeit erfahren, sondern die Halben. Die Hookline lädt zum Mitsingen ein (bei dem man sich einer heimlichen Träne durchaus nicht schämen muss). Dieser Knabe Elton ist ein Könner, ohne Zweifel. Die musikalischen Mittel, die er einsetzt, um seine emotionalen Wirkungen zu erzielen, sind einerseits »kalt« konstruiert, schlicht aus dem großen Baukasten der musikalischen Affekt-Klischees entnommen; andererseits werden sie so überzeugend vorgetragen, dass sie wohl doch nicht nur das Resultat von Berechnung
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