Der Musikversteher
spät-postmoderne Vielfalt in gleichgültige Beliebigkeit ab (also in genau das, was der ungarische Avantgardekomponist György Ligeti an Teilen der Postmoderne kritisierte)?
Wir gehen nun selbst auf Sammeljagd und machen eine Bestandsaufnahme von Grenzüberschreitungen und Tabuverletzungen in diesem Song: Eine leicht bis schwer verstimmte Gitarre spielt zu Beginn ein lateinamerikanisches Pattern, Bossa Nova mit ii-V-Harmonien (b-Moll 7 – Es 7 9 ), dazu elektronische Verfremdungen und die »High 5«- Stimmen; dann beginnt (ab 0’19’’) ein stilisiertes Hiphop-Stück, aber immer noch mit lateinamerikanischen Rhythmus-Elementen; ein einsamer gesampelter Bläserakkord (0’27’’) entwickelt sich zu einer typischen Bigband-Akkordkette (erstmals ab 0’40’’); das ist der guterkennbare Startpunkt des Videos; eine Rap-Geschichte wird erzählt (wie üblich mit viel Text), aber verfremdet durch den Sound: die Stimme aus weiter Entfernung eines schlechten Funkverkehrs oder einer miesen Telefonverbindung (ab 0’45’’); quasi Hookline »High 5« (1’04’’); und dann der Schock: Wie aus einer anderen Welt ab 1’15’’ Franz Schuberts Unvollendete , die Symphonie als Inbegriff romantischer Melancholie und Weltverlorenheit, mit kreischender Elektronik in die Gegenwart gezerrt und – wieder vergessen, konsequenzlos.
Was für eine unglaubliche Versammlung von Grenzüberschreitungen auf engstem Raum! Das könnte natürlich wirklich als ein Spiel mit Versatzstücken von postmoderner Beliebigkeit aufgefasst werden – aber es ist viel mehr. Alle scheinbare Coolness ist getränkt mit Melancholie, mit Weltverzweiflung, mit Ironie und Selbstironie. Diese produktive Ratlosigkeit auf höchstem Pop-Art-Niveau mit ihren überraschenden Querverbindungen, aber auch Brüchen demonstriert, wie Grenzüberschreitungen mit Erkenntnisgewinn inszeniert und auf verblüffende Weise sinnlich anschaulich gemacht werden können. Für Kontinuität sorgen, wie so oft in der Musik, Wiederholungen und Varianten und der gute alte Kitt, das wacker im 4/4-Takt durchgehaltene Schlagzeug, allen Abbrüchen und Verfremdungen trotzend, immer wieder auftauchend wie der Igel im Märchen:
ICK BÜN ALL HIER!
Die Fantastischen Vier/Grönemeyer: EINFACH SEIN (2008)
– http://www.youtube.com/watch?v=rKb_SE5JB54 (Aufführung ohne Herbert Grönemeyer)
– http://www.youtube.com/watch?v=V1yEIaoRNhE&feature=related (mit Grönemeyer-Stimme)
Vielversprechende Ankündigung: Fanta 4 mit Grönemeyer! Aber dessen Mitwirkung (wenn er denn, außer auf der Studioaufnahme, dabei ist) beschränkt sich auf einen Hookline-Satz:»Es könnt’ alles so einfach sein – isses aber nicht.« Regelmäßiger, immer unveränderter Refrain – wie in der Barockmusik und in der Wiener Klassik im französischen Rondeau .
In Smudos Strophe (0’26’’– 0’52’’) zwei Arten des Sprechens/ Sprechgesangs: rasches »Parlando« (wunderbar pseudophilosophisches Macho-Gelaber) – und alles nur, um das Mädchen rumzukriegen.
Dann, als Pre-Chorus (0’51’’–1’05’’), eine rhythmisch strukturiertere, langsamere Dialogsituation, mit Gesangselementen, auch chorisch.
Onkel Herbert hebt seinen Hookline-Zeigefinger (1’05’’– 1’18’’). »Einfach sein« ist rhythmisch harmloser als andere Stücke der Fanta 4 (glatt, kaum Textbetonungen »gegen den Strich«, kaum charakteristische Offbeats). Musikalische Grundidee ist, dass ein achttaktiger Bass permanent wiederholt wird (viermal zwei Takte); es ist ein »Lamento-Bass« (Renaissance/ Barock; erinnern wir uns an Ashcroft, A SONG FOR THE LOVERS, und an Claudio Monteverdis LAMENTO DELLA NINFA, S. 180), auch als Flamenco-Bass oder Malagueña-Bass bekannt, mit nur vier Tönen, also ein Ton für zwei Takte, hier in f-Moll: F-Es-Des-C.
Michi Beck gibt den sozialen Aufsteiger, der seinen künftigen Untergebenen das Blaue vom Himmel verspricht – völlig haltlos (1’18’’– 1’44’’).
Thomas D. stellt die ganz großen philosophischen Fragen: Was ist Schein, was ist Sein? Christentum? Darwinismus? Fragen, keine Antwort; simple Antworten – nix für uns (2’23’’– 2’50’’).
Letzter Durchlauf des »Chorus« in diesem »Rondeau«: rein instrumental. Gelegenheit, über die Aussagen nachzudenken und das Grundgefühl noch einmal in Reinkultur zu erleben. Schöner Text, eine Dramaturgie, die Spaß macht – aber die Musik relativ dünn, weil variantenlos bleibend (Vergleich mit
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