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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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Adjektiv zu seiner Beschreibung wäre vielleicht selbstgefällig. Er ist auf Grund der Tatsache, dass er niemals wegen Gewalttätigkeit oder sexuellen Missbrauchs verurteilt wurde, mit ziemlicher Sicherheit überzeugt davon, dass er das Recht hat, sich so zu verhalten wie er es tut. Es kann sogar sein, dass er sich einbildet, die Polizei sei auf seiner Seite. Der Mann ist der Stärkere, darum gilt, was der Mann sagt.« Harry hielt einen Moment inne. »Sie hatten recht, als Sie ihn vorhin einen Cretin nannten. Setzen Sie noch das Wort abartig davor, und Sie haben eine Vorstellung davon, mit was für einem Menschen Sophie es zu tun hat.«
Im Haus Humbert Street 23
    Sophie blickte zu dem alten Mann hinunter, der sich um Atem ringend auf dem Fußboden wand. Wenn sie es schaffte, den Kleiderschrank wegzuschieben, oder Nicholas dazu zu überreden, es zu tun, könnte sie diesem entsetzlichen Zimmer entkommen.
    »Lassen Sie mich nach unten gehen und mit der Person reden, die im Haus ist«, drängte sie Nicholas. »Jetzt – solange Ihr Vater mich nicht aufhalten kann. Ich verspreche, dass ich nicht weglaufe. Ich bleibe unten an der Treppe stehen und sorge dafür, dass niemand raufkommt.«
    Er warf einen unschlüssigen Blick zur Tür. »Sie können doch niemanden aufhalten.«
    »Doch, ganz bestimmt, wenn Sie mich nur mit den Leuten reden lassen. Wir müssen jetzt versuchen, uns selbst zu helfen. Begreifen Sie das denn nicht?«
    »Es ist sicherer, auf die Polizei zu warten.«
    Eine tödliche Apathie drohte sie zu umfangen, weil ein Teil von ihr ihm zustimmte – jener zaghafte Teil, der in uns allen wohnt und bewirkt, dass wir der Gefahr, die wir sehen können, mutiger begegnen als der, die wir nicht sehen können. Beinahe redete sie sich ein, es wäre das Sicherste, zu bleiben, wo sie war – im trügerischen Schutz von vier Backsteinwänden. Wer wusste denn, was draußen vor sich ging? War sie wirklich so gewiss, dass jemand bereit wäre, auf sie zu hören? Was, wenn sie die Situation nur verschlimmerte?
    Sie spürte, dass Nicholas sie ansah, und ihr fiel ein, wie es ihm mit seiner sanften Art schon einmal beinahe gelungen war, sie einzulullen. Verdammt noch mal! Verdammt! Verdammt! So schwach war sie nicht! Was würde Bob sagen, wenn sie ihm erklärte, sie hätte beschlossen, es auf eine Vergewaltigung ankommen zu lassen, weil sie zu feige war, aus einem Zimmer hinauszugehen...
    »Für mich ist es nicht sicherer«, entgegnete sie hitzig und stampfte mit dem Fuß auf, um ihn aufzurütteln. »Ich habe Freunde da draußen... Menschen, denen etwas an mir liegt... ganz im Gegensatz zu Ihnen und diesem –« Sie wies mit einer hochmütigen Drehung ihres Kopfes auf Franek –»widerlichen Stück Scheiße.«
    »Es tut mir Leid.«
    »Reißen Sie sich lieber zusammen«, fuhr sie ihn an. »Wenn die Polizei käme, wäre sie bereits hier. Fragen Sie sich doch endlich mal, warum wir bisher nichts weiter gehört haben als einen Hubschrauber. Heißt das nicht, dass sie versuchen herauszufinden, was eigentlich los ist? Und warum sollten sie das tun müssen, Nicholas, wenn es auf den Straßen von Polizisten wimmeln würde? Sie sind doch ein gebildeter Mann, Herrgott noch mal! Schalten Sie Ihr Hirn ein – denken Sie! Es ist wahrscheinlicher, dass wir angegriffen, als dass wir gerettet werden.«
    Er sagte nichts. Sein Blick war auf seinen Vater gerichtet, dessen Bewegungen und Atemzüge langsam ruhiger wurden.
    Sophie versuchte es mit stärkerem Nachdruck. »Ihr Vater wird mich nicht gehen lassen«, sagte sie. »Das wissen wir beide – und wir wissen auch, warum nicht. Ich denke, Sie setzen darauf, dass man uns hier herausholen wird, bevor er völlig außer Kontrolle gerät. Aber er hat mich schon zweimal angegriffen.« Sie hob die Hand zu ihrer angeschwollenen Wange. »Ich bin nur deshalb glimpflich davongekommen, weil Sie beim dritten Mal eingegriffen haben, aber so nah lässt er Sie bestimmt nicht wieder heran. Was passiert also, wenn wir noch mal fünf Stunden hier festsitzen, Nicholas? Wollen Sie sich ihm dann als Boxsack zur Verfügung stellen, um mich zu schützen? Oder werden Sie in die Ecke schauen und Ihren Vater tun lassen, was er will?«
    Er schob die Hände in die Hosentaschen und zog eine Schuhspitze durch den Staub auf dem Fußboden. »Viel halten Sie nicht von mir, nicht wahr?«
    Was sollte sie darauf antworten? Richtig? Falsch? Sollte sie ehrlich sein oder lügen? Was für ein Typ war er? Schizoid? Paranoid?

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