Der Nachbar
Borderline?
»Ich glaube, dass er Sie so grausam misshandelt hat, dass Sie Todesangst davor haben, etwas ohne seine Erlaubnis zu tun. Ich kann nicht behaupten, dass ich das verstehe – Sie sind ein erwachsener Mann und sollten gar nicht mehr mit ihm unter einem Dach leben –, aber es ist nun mal Tatsache.« Sie bemühte sich, so ruhig und sachlich zu sprechen, wie es ihr möglich war. »Und darum ja, Sie haben Recht, ich halte nicht viel von Ihnen.«
Ihr Blick ruhte einen Moment lang auf seinem gesenkten Kopf. »Die Gefahr droht von draußen, Nicholas, und sich hier zu verschanzen und zu hoffen, dass man uns retten wird, ist verrückt. Wissen Sie irgendetwas über die Leute, die hier in der Siedlung leben? Sie haben vorhin einmal gesagt, dass es hier rau zugeht... dann sagen Sie mir doch, was diese Leute Ihrer Meinung nach mit einem Pädophilen tun werden, wenn sie ihn vor der Polizei schnappen.«
Es schien ihn nicht zu überraschen, dass sie wusste, warum die Menge sich draußen versammelt hatte. Er wirkte sogar erleichtert darüber, endlich offen sein zu können. »Sie werden ihm den Schwanz abschneiden«, sagte er emotionslos. »Und meiner Ansicht nach haben sie damit ganz Recht. Ich habe es im Gefängnis selbst versucht, aber ich wurde daran gehindert, ehe ich ernsten Schaden anrichten konnte. Heutzutage darf sich niemand mehr selbst verstümmeln – nicht einmal ein Pädophiler.«
Lieber Gott!
»Sie brauchen wirklich Hilfe«, sagte sie ebenso emotionslos. »Was zum Teufel geht in Ihnen vor, dass Sie sich einbilden Ihr Schwanz müsste geopfert werden?«
Telefonische Nachricht
Für: Chief Inspector Tyler
Von: Mrs Angela Gough
Aufgenommen von: Constable Drew
Datum: 28. 07. 01
Zeit des Anrufs: 15 Uhr 56
Mrs Gough hat die Rechnung ihrer Tochter Francesca beglichen und ihr einen Rückflug für heute Nachmittag gebucht. N.B.: Townsend hatte ursprünglich für nächsten Samstag, den 4. 8., gebucht. Mrs Gough bat darum, Chief Inspector Tyler folgendes auszurichten:
Sie möchte Edward Townsends erste Frau nicht in diese Angelegenheit hineinziehen; das will sie nicht auf sich nehmen. Sie ist aber bereit weiterzugeben, was ihre Freundin ihr bezüglich Townsend erzählt hat.
Er ist zweimal geschieden. In beiden Fällen wollten die Frauen die Scheidung. Bei der Scheidung von ihrer Freundin (auch bei der von seiner zweiten Frau, glaubt Mrs Gough) wurde er von Martin Rogerson vertreten.
Der offizielle Grund für die erste Scheidung war Townsends Ehebruch mit der Frau, die er in zweiter Ehe heiratete. Der inoffizielle Grund war Townsends obsessive Beziehung zu seiner Stieftochter (zum Zeitpunkt der Scheidung 9 Jahre alt, jetzt 17). Keine Beweise dafür, dass er sie sexuell missbraucht hat – das Kind bestritt es –, aber die Mutter fand Videoaufnahmen, die ihre Tochter nackt zeigten. Ähnliche Aufnahmen hatte Townsend vor der Heirat von der Mutter gemacht, angeblich, weil er sie auch sehen wollte, wenn sie nicht bei ihm war. Die Frau fand zwei weitere Videobänder von Kindern, die ihr unbekannt waren.
Rogerson und der Anwalt der Ehefrau handelten einen Vergleich aus, in dessen Folge die Video-Geschichte fallen gelassen und die Ehefrau zum Stillschweigen verpflichtet wurde. Mrs Gough glaubt, dass Martin Rogerson der Ehefrau mit Veröffentlichung der Bänder drohte. Tatsächlich gesagt hat ihr das aber ihre Freundin nicht. Diese hat immer noch Schuldgefühle wegen ihres Schweigens, da sie überzeugt ist, dass Townsend pädophil ist.
Mrs Gough hat das Foto von Amy im Fernsehen gesehen. Ihrer Aussage nach hat das Kind große Ähnlichkeit mit der Tochter ihrer Freundin, als diese im gleichen Alter war.
Townsends zweite Frau hatte eine achtjährige Tochter. Über diese Ehe weiß Mrs Gough lediglich, dass sie nicht einmal ein Jahr lang hielt.
Mrs Gough warnte ihre Tochter Francesca vor Townsend und sagte, er habe ein krankhaftes Interesse an kleinen Mädchen. Francesca beschuldigte sie daraufhin der Eifersucht. Mrs Gough bedauert jetzt, dass sie nicht das Wort ‘pädophil’ gebrauchte.
G. Drew
21
Polizeipräsidium Hampshire
Martin Rogerson blickte ärgerlich auf, als Chief Inspector Tyler den Vernehmungsraum betrat. Er hielt ein Handy ans Ohr gedrückt, und es war nicht klar, ob sein Ärger sich gegen Tyler richtete oder gegen die Person, mit der er telefonierte. Mit einem kurzen »Auf Wiederhören« schaltete er das Gerät aus und legte es vor sich auf den Tisch. Zorn und Frustration standen ihm ins verkrampfte
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