Der Nachbar
immer sehr lieb. Ich glaube, sie tut ihm Leid.«
Sie wurde in der Küche vernommen, von demselben Beamten, Chief Inspector Tyler von der Kripo, der sie sechs Stunden zuvor bereits über Amys Vater ausgefragt hatte. Nun, da er bereits genauere Informationen besaß, setzte er sich neben die Psychologin an den Tisch und stellte Laura gezieltere Fragen über die Beziehung, die zwischen ihr und ihrem Mann bestanden hatte. Vielleicht wusste Laura, was kommen würde, denn sie weigerte sich, vom Boden aufzustehen oder sich von der Küchentür zu entfernen, und hielt den Kopf beinahe ständig gesenkt, sodass das nach vorne fallende dunkle Haar ihr Gesicht verbarg und ihre Miene nicht zu erkennen war. Es vermittelte einen Eindruck von Gleichgültigkeit oder, schlimmer, Verschlagenheit.
»Warum sollte Amy ihm Leid tun?«
»Ich habe ihm erzählt, dass ihr Vater sie misshandelt hat.«
»Stimmt das denn?«
Sie hob kaum merklich die Schultern und ließ sie wieder herabfallen. »Das kommt darauf an, wie man Misshandlung definiert.«
»Und wie definieren Sie den Begriff, Laura?«
»Machtausübung ohne Liebe.«
»Tyrannei also?«
»Richtig.«
»Das Gleiche haben sie Kimberley vorgeworfen.«
Sie zögerte vor ihrer Antwort, als fürchtete sie eine Falle. »Ja«, bestätigte sie dann. »Sie und Martin sind aus demselben Holz geschnitzt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Menschen, die sich als unzulänglich empfinden, müssen andere unterwerfen.«
Tyler erinnerte sich seines ersten Eindrucks von Martin Rogerson, als dieser ihm in Hemdsärmeln die Tür geöffnet und entgegenkommend die Hand angeboten hatte. Polizisten waren gewöhnt, auf Erschrecken oder Ablehnung zu stoßen, wenn sie ihre Ausweise zeigten – jeder hatte etwas zu fürchten oder Grund zum schlechten Gewissen –, aber Rogerson hatte nichts dergleichen gezeigt. Er war fünfundzwanzig Jahre älter als seine Frau – Ende Fünfzig –, Anwalt, ein Mann mit selbstsicherem, gewandten Auftreten und einem festen Händedruck. Dem Bild des sich insgeheim minderwertig fühlenden Tyrannen, das seine Frau soeben entworfen hatte, entsprach er überhaupt nicht.
»Auf welche Art hat Ihr Mann Amy tyrannisiert?«
»Das würden Sie doch nicht verstehen.«
»Versuchen Sie trotzdem, es mir zu erklären.«
Wieder zögerte sie. »Er hat sie durch sein Verhalten dazu gebracht, um seine Liebe zu betteln«, sagte sie. »So dass sie glaubte, seine Liebe wäre mehr wert als meine.«
Die Erklärung war so ungewöhnlich, dass Tyler ihr glaubte. Er musste an einen geprügelten Hund denken, den er einmal gesehen hatte. Das Tier war dem Jungen, der es mit der Peitsche malträtierte, auf dem Bauch entgegengekrochen. Und er erinnerte sich, dass der Hund ihn gebissen hatte, als er ihm hatte helfen wollen. »Und Ihre Liebe zurückgewiesen wurde?«
Sie antwortete nicht.
Ohne Triumphgefühl ließ er die Falle zuschnappen. »Wenn Sie gewusst haben, dass Kimberley Ihre Tochter tyrannisierte, warum haben sie Amy dann bei ihr gelassen?«, fragte er.
Mit der Fingerspitze zeichnete Laura Kreise auf den Fußboden. Jeden für sich. Jeden in sich geschlossen. Tyler hätte gern gewusst, wofür sie standen. Für Martin? Für Laura selbst? Amy? Abstand?
»Ich spare auf eine Anzahlung für eine Wohnung«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Das ist unser einziger Ausweg... Amy wünscht es sich so sehr wie ich.« Sie öffnete ihre linke Faust und tupfte sich die Augen mit dem durchweichten Papiertaschentuch, das zum Vorschein kam. »Sie hat mir immer wieder versichert, Kimberley wäre ganz in Ordnung, wenn sie mit ihr allein sei. Ich wusste, dass sie log – aber ich glaubte, schlimmstenfalls säße sie eben den ganzen Tag allein in ihrem Zimmer. Ehrlich. Und das fand ich nicht so furchtbar schlimm – jedenfalls nicht nach –« Sie brach ab und verschloss das Taschentuch wieder in ihrer Faust wie ein schmutziges Wäschestück, das nicht gezeigt werden darf.
»Wonach?«
Sie antwortete nicht gleich, und er hatte das Gefühl, das sie damit beschäftigt war, sich eine Erklärung auszudenken. »Ach, einfach nach diesem Leben«, sagte sie schließlich müde. »Es war für uns beide nicht einfach.«
Tyler betrachtete einen Moment lang ihren gesenkten Kopf, ehe er einen Blick auf die Aufzeichnungen warf, die vor ihm lagen. »Ihrem Mann zufolge leben Sie und Amy seit neun Monaten nicht mehr mit ihm zusammen. Er sagte, Sie hätten ihn wegen eines Mannes namens Edward Townsend verlassen, und seines Wissens lebten
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