Der Nachbar
Kind aufpassen konnte?«
Sie begann wieder Kreise zu malen. »Ich konnte doch nicht riskieren, dass Amy den Leuten vom Wohnungsamt von ihrem Vater erzählt. Sie hätten sie mir sofort weggenommen, wenn sie gehört hätten, dass sie die Möglichkeit hatte, woanders unterzukommen.« Ein zitterndes Lachen kam über ihre Lippen. »Außerdem ist mein Mann ein Snob. Ich wusste, dass er hier niemals nach uns suchen würde. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass ich so weit gehen würde, in eine Sozialwohnung zu ziehen und in einem Supermarkt zu arbeiten, nur um ihn los zu sein.«
»Wie denkt denn Amy über das alles?«
‘Sogar deine Tochter weiß, dass du nur mit ihm in die Kiste springst, weil du ein Dach über dem Kopf brauchst...’»Ich weiß es nicht. Ich habe sie nie gefragt.«
»Warum nicht?«
»Sie haben das Haus meines Mannes gesehen.« Sie warf ihm einen schnellen, taxierenden Blick zu. »Was würden Sie wählen, wenn Sie ein zehnjähriges Mädchen wären?«
Rogerson hatte sich die gleiche Frage gestellt, nachdem er erfahren hatte, was für ein Leben Amy die letzten zwei Monate geführt hatte. »Natürlich das Haus Ihres Mannes, aber wenn das wirklich das ist, was sie will, hätten Sie ihr die Möglichkeit geben müssen, selbst zu entscheiden. Sie hat die gleichen Rechte wie Sie, Laura, und hat es wirklich nicht verdient, von ihren Eltern als Geisel benutzt zu werden.«
»Wenn sie eine Geisel wäre«, gab Laura aufbrausend zurück, »dann säße sie jetzt sicher eingesperrt in ihrem Zimmer, und wir brauchten dieses Gespräch nicht zu führen.«
»Das meinte ich nicht, Laura.«
»Ich weiß, was Sie meinten«, murmelte sie und stellte das Radio lauter, um ihn sich vom Leib zu halten. »Aber Sie gebrauchen Martins Worte. Vielleicht sollten Sie also ihn fragen, was er damit meint.«
‘...zweihundert Ortsbewohner stießen im Lauf der Nacht zu den Polizeimannschaften, um die Umgebung abzusuchen...’
‘...bei der Polizei hält man es für möglich, dass Amy sich auf dem Weg zu ihrem Vater in Bournemouth befindet...’
‘...fordert man jetzt alle Haus- und Grundstücksbesitzer im Süden auf, in Schuppen, Garagen, ausrangierten Kühlschränken, leer stehenden Häusern zu suchen... die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Amy vielleicht eingeschlafen ist...’
‘...sagte ein Sprecher der Landesvereinigung zur Verhinderung von Grausamkeit gegen Kinder, es sei zwar stets tragisch, wenn ein Kind verschwinde, die Öffentlichkeit solle aber nicht vergessen, dass jede Woche zwei Kinder in der eigenen Familie durch Grausamkeit und Vernachlässigung umkommen...’
‘...bestätigte ein Polizeisprecher, dass innerhalb von acht Stunden nach Amys Verschwinden sämtliche amtsbekannten Pädophilen in Hampshire aufgesucht wurden...’
‘...keinerlei Hinweise...’
Samstag, 28. Juli 2001
10 Uhr bis 19 Uhr
6
Glebe Road, Bassindale
Auf einer Bank draußen vor dem Coop in der Glebe Road teilten sich Melanie Patterson und ihre Mutter eine Zigarette. Das war Teil eines festen Samstagmorgen-Rituals, bei dem sie die letzten Neuigkeiten auszutauschen pflegten, ehe sie gemeinsam ihre Einkäufe machten. Es war genau wie früher, als sie noch zusammengelebt hatten. Da hatte sich Gaynor immer auf dem Sofa lang gelegt, Melanie hatte sich an sie gekuschelt und sie hatten bei einer Dose Bier und einer gemeinsam gerauchten Zigarette die Welt verbessert. Sie hatten sich immer gut verstanden und nie begriffen, weshalb die vom Sozialdienst sich über ihre ständig wachsende Familie so maßlos aufregten.
Gaynor sah aus wie eine etwas ältere Ausgabe ihrer Tochter, nicht ganz so groß, aber mit den gleichen üppigen blonden Haaren und blitzenden blauen Augen. Ihr fünftes Kind, ein kleiner Junge, war ein halbes Jahr nach seiner Nichte Rosie zur Welt gekommen, aber keiner von den Pattersons fand das im Geringsten bemerkenswert. Eine logische Ordnung der Generationen gab es in dieser Familie nicht. Melanies Urgroßmutter, selbst Mutter von zehn Kindern, war erst fünf Jahre nach dem Tod ihres ältesten Bruders im Ersten Weltkrieg geboren worden, dennoch hatte sie sein Foto auf ihrem Nachttisch stehen und sprach von ihm, als fühlte sie sich ihm näher als ihren noch lebenden Brüdern. Vielleicht war es ja auch so, denn die Patterson-Männer waren berüchtigt für ihr wildes Draufgängertum –»Das ist ihr irisches Blut«, hatte die Urgroßmutter immer erklärt, eine vage Verbindung zu irgendeinem fernen Vorfahren knüpfend, der im
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