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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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Nummer 121 hielt sie an und stieg aus dem Fahrzeug. Sie sollte noch einmal versuchen, den fünfzehnjährigen Wesley Barber zu erwischen, um ihn wegen eines Handtaschendiebstahls in der Innenstadt zu befragen. Die Chance, dass etwas dabei herauskommen würde, war gering. Zwar entsprach die Vorgehensweise genau dem, was sie von ihm kannten – das Opfer war eine alte Frau gewesen, die mit dem Portemonnaie in der Hand, in dem sie gerade ihre monatliche Rentenzahlung verstaut hatte, aus dem Postamt gekommen war –, aber die Beschreibung der Zeugin, »so ein riesiger junger Schwarzer mit wildem Blick« würde keinen Richter überzeugen, dass Wesley mit dem Engelsgesicht der Bösewicht war.
    Der Junge war ein minderbegabter Schulversager – ein drogenabhängiger Psychopath seinem Klassenlehrer zufolge, der ihm das Schuleschwänzen straflos durchgehen ließ, weil er froh war, wenn der Junge sich nicht in der Schule zeigte –, aber er hatte ein Gesicht wie ein Heiliger. Er trieb jeden, der näher mit ihm zu tun hatte, zur Verzweiflung, allen voran seine Mutter, die täglich in der Kirche auf den Knien lag und um ein Wunder betete. Im Übrigen war er nie zu Hause, wenn die Polizei kam, die Aussichten, dass es tatsächlich zu der Vernehmung kommen würde, waren also ausgesprochen gering.
    Lautes Grölen vom anderen Ende der Straße veranlasste Constable Hanson aufzublicken. Eine Bande Jugendlicher kam johlend um die Ecke gezogen. Hanson senkte hastig den Blick, um ja keinen Anlass zu einer Konfrontation zu geben, aber die Jungen machten sich eilig aus dem Staub, als sie das Polizeifahrzeug bemerkten. Nur einer von ihnen brüllte so laut, dass sie es hören musste: »Hey, die Tusse ist allein, ihr Ärsche. Die schaffen wir leicht.«
    Sie legte eine Hand an die Autotür, um sich abzustützen, und sah der Bande demonstrativ nach, als überlegte sie, ob sie sich die Burschen greifen sollte. In der Acid Row hatte sie immer Angst. Das war von Anfang an so gewesen. Sie verglich es mit einer Hundephobie. Man konnte sich an sämtliche Verhaltensregeln halten, aber wenn Angst das Einzige war, was man spürte, dann witterten die Bestien das. Sie hatte einmal versucht, das ihrem Chef zu erklären, und hatte sich dafür einen Rüffel eingehandelt.
    »Sie werden in der Acid Row häufiger zu tun haben als sonst wo«, hatte er gesagt. »Das liegt nun mal in der Natur Ihres Jobs. Wenn Sie das nicht packen, dann lassen Sie's lieber gleich. Auf jeden Fall würde ich Ihnen raten, die Leute dort nicht noch einmal als Bestien zu bezeichnen, sonst bekommen Sie es nämlich mit mir zu tun.«
    Dabei hatte sie es so gar nicht gemeint. Sie hatte die Angst vor Hunden als Analogie benutzt, aber ihr Chef hatte das nicht verstanden oder verstehen wollen. Sie brauchte Hilfe, und alle Hilfe, die er ihr bot, bestand darin, sie jeden Tag von neuem mit ihrer Angst zu konfrontieren. In den vergangenen drei Monaten hatte sie so oft allein in der Acid Row Dienst tun müssen, dass ihre Angst sich zur Paranoia gesteigert hatte. Immer wenn sie hierher kam, bildete sie sich ein, verfolgt und beobachtet zu werden. Sie glaubte fest, die Jugendlichen rotteten sich zu Rudeln zusammen und lauerten ihr auf, um sie in einem unbewachten Moment zu überfallen. Und sie war in ihrer Paranoia überzeugt davon, dass es sich um eine Verschwörung gegen sie handelte, hinter der ihr Chef steckte. Er schickte sie immer allein los...
    »Diese Polizistin ist schon wieder da«, sagte Wesleys Mutter, die hinter den Stores aus dem Fenster spähte. »Willst du nicht endlich mal mit ihr reden?«
    Sie wusste, dass er etwas verbrochen hatte. Sie witterte es jedes Mal. Und im Innern wusste sie, dass es für ihren Sohn trotz all ihrer Gebete keine Rettung gab. Der Pastor hatte behauptet, der Junge nähme Drogen, aber das glaubte sie nicht. Der Teufel hatte Wesley in den Klauen, genau wie seinen Vater.
    »Bestimmt nicht. Die will mir nen Überfall anhängen.«
    Mrs Barber sah ihren Sohn scharf an. »Hast du's getan?«
    »'türlich nicht«, entgegnete er beleidigt.
    »Du lügst doch wie gedruckt«, sagte sie und gab ihm mit fleischiger Hand eine Ohrfeige. »Hab ich dich nicht oft genug gewarnt? Wenn du noch ein einziges Mal so einer armen alten Frau ihre paar Kröten wegnimmst, dreh ich dich eigenhändig durch die Mangel.«
    »Jetzt hör endlich auf«, schrie er sie an. »Ich war's nicht, Mum. Wieso glaubst du mir nie?«
    »Weil du wie dein Vater bist«, versetzte sie mit Abscheu und wandte sich

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