Der Nachbar
würden wir jedes Mal überfallen werden, sobald wir die Wagentür aufmachen.« Sie beobachtete seine nervösen Blicke zum Korridor. »Was ist denn?«, fragte sie.
»Hören Sie sie denn nicht?«
Sie lauschte dem Geräusch ferner Stimmen draußen auf der Straße. »Ja, das ist ein ziemlicher Krach«, stimmte sie zu, »aber das ist doch hier meistens so. Die Kids wissen nichts Besseres mit sich anzufangen, als herumzugrölen, besonders samstagnachmittags, wenn sie schon mittags zu trinken anfangen.«
Er sagte nichts.
»Es sind Ferien«, fügte Sophie hinzu. »Sie mopsen sich.«
Er holte Atem, als wollte er zum Widerspruch ansetzen, aber dann schüttelte er nur niedergeschlagen den Kopf, nahm das Rezept wieder vom Tisch und schob es in die Hosentasche. »Ich bringe Sie hinaus«, sagte er.
Sie klappte ihren Koffer zu und stand auf. »Einer meiner Kollegen ist den ganzen Abend zu erreichen«, bemerkte sie, »aber wenn Ihr Vater wieder so einen Anfall bekommt, sollten Sie vielleicht besser den Rettungsdienst anrufen. Unter normalen Umständen kommen die schneller als wir. Ich war diesmal nur so prompt da, weil ich ganz in der Nähe war.« Er tat ihr plötzlich Leid. »Aber ich denke, Sie brauchen sich keine allzu großen Sorgen zu machen. Auf Angst folgt körperliche Erschöpfung. Er wird wahrscheinlich die Nacht durchschlafen, und morgen, wenn es draußen wieder ruhig geworden ist, wird er sich fragen, wie er so außer sich geraten konnte.«
»Ja, wahrscheinlich haben Sie Recht.«
»Ich glaube wirklich nicht, dass Sie etwas zu befürchten haben, wenn er vor dem Zu-Bett-Gehen eine Beruhigungstablette nimmt«, meinte sie, schon auf dem Weg aus dem Zimmer hinaus. Wieder sah sie auf ihre Uhr. »Die Apotheke in der Trinity Street hat bis sechs geöffnet, da haben Sie noch gut Zeit, um das Medikament zu besorgen.« Vor der Haustür machte sie Halt und drehte sich mit einer impulsiven Bewegung herum, um ihm zum Abschied die Hand zu reichen.
Er empfand die Berührung wie die eines flatternden kleinen Vogels und blickte seltsam fasziniert auf ihre Hand hinunter. Gern hätte er sie festgehalten und sich mit dem Duft der Sauberkeit voll gesogen, doch seine eigene Hand begann zu zittern, und er zog sie weg. »Danke, dass Sie gekommen sind, Dr. Morrison«, sagte er und langte an ihr vorbei, um die Tür zu öffnen.
Es gab einen Moment, dachte Sophie später, da sie so schuldlos und unversehrt aus diesem Haus hätte hinausgehen können wie sie hineingegangen war. Aber die Zeit zu überlegen, war so kurz gewesen – ein Augenblick nur, um eine Entscheidung zu treffen, auf die sie nicht vorbereitet gewesen war. Ein Wimpernschlag der Stille, als die Tür sich öffnete, als sie hätte hinaustreten sollen und es nicht tat – weil der Sohn eines Patienten sich bedankt hatte, und sie innehielt, um ihm ein Lächeln zu schenken.
>Meldung an alle Polizeidienststellen
>NOTRUFLEITUNGEN ÜBERLASTET
>28. 07. 01
>14 Uhr 35
>Bassindale
>HÖCHSTE DRINGLICHKEIT
>Anonymer Anruf – Handy –, demzufolge eine Menschenmenge von mehr als 200 Personen in die Humbert Street drängt.
>Mit Steinen und Flaschen bewaffnet
>Möglicherweise Molotow-Cocktails
>KEIN ZUGANG
>LAGE IST AUSSER KONTROLLE
>NOTLEITUNGEN ÜBERLASTET
>28. 07. 01
>14 Uhr 37
>Polizei-Hubschrauber gestartet
10
Humbert Street 23, Bassindale
Es gab keine Möglichkeit, sich auf das vorzubereiten, was als Nächstes geschah. Keinen Schutz vor der Schallexplosion, die wie eine gewaltige Flutwelle über ihnen zusammenschlug, als aus hundert Kehlen Triumphgeheul hervorbrach. Keine Rettung vor dem scharfkantigen Stein, der durch die Luft schnitt und die Haut von Sophies rechtem Arm aufschlitzte. Es war so unerwartet, so erschreckend, dass sie automatisch die Haustür zuschlug und sich so zur Gefangenen machte. Sie fluchte laut, aber die Worte gingen im Donnern eines Steinhagels unter, der gegen die Holzfüllung der Tür schlug, und sie duckte sich im Reflex und wich stolpernd vor der Bedrohung zurück. Sie sah die Tür unter dem Angriff erzittern und schrie Nicholas zu, er solle weglaufen. Er starrte sie an, mit zuckendem Mund, als bemühte er sich verzweifelt, ihr etwas zu sagen. Einen entsetzlichen Moment lang glaubte sie, er würde ohnmächtig werden, aber dann meldete sich doch der Überlebenstrieb, und er stürzte ihr nach. Sie reagierten rein instinktiv, krümmten wie Tiere ihre Körper zusammen, um die kleinstmögliche Angriffsfläche zu bieten, während sie mit
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