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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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eingezogenen Köpfen den Feind hinter der Tür erwarteten. Selbst wenn ihnen die Zeit geblieben wäre, sich mit vernünftiger Überlegung klarzumachen, was da geschah – das Krachen des Steinschlags, das aggressiv in ihren Ohren dröhnte, betäubte alles Denken.
    Sophie blickte sehnsüchtig zur offenen Tür des Wohnzimmers, das ihr schützende Zuflucht zu bieten schien. Sie erkannte in diesem Moment nicht, dass sie in dem fensterlosen Korridor tausendmal sicherer war. Mit hämmerndem Herzen schnellte sie in die Höhe und schoss ins Zimmer, wartete nur darauf, hinter Nicholas die Tür zuzuschlagen. Sie nahm wahr, dass Franek auf den Beinen war, und bot ihm die Hand, um ihn zu stützen, als das Fenster zersprang und Glasscherben die dünnen Gardinen in Fetzen rissen. Scheckiges Sonnenlicht strömte ins Zimmer. Es geschah blitzartig, aber sie erlebte es mit solcher Klarheit, dass das Bild sich ihr unauslöschlich einprägte. Wunderschön, wie die Lichtpfeile ins Zimmer stachen. Tragisch die Unausweichlichkeit dessen, was folgen musste. Der Mord an einem alten Mann.
    In ihren Träumen erinnerte sie ein Blutbad, weil das vorauseilende Entsetzen ein mächtigeres Bild schuf, als die Realität. Aber diese Erinnerung war falsch. Noch während sie mit schriller Stimme eine Warnung schrie –»Weg! Weg! Laufen Sie weg!«– und Franek sich nach ihr umdrehte, fielen die Glassplitter, vom Stoff der Vorhänge in ihrem Schwung gebremst, harmlos zu Boden. Die Menge draußen konnte ihn offenbar sehen, denn sie brach wieder in Geschrei aus, und diesmal waren einzelne Wörter auszumachen.
    »Drecksau...!«
    »Ficker...!«
    »Perverser...!«
    Nicholas packte ihn beim Arm und schob ihn in den Korridor. Sophie rief er zu, sie solle die Tür schließen. »In die Küche«, sagte er, während er seinen Vater an der Treppe vorbeistieß. »Da ist ein Telefon.«
    Es ging alles viel zu schnell. Sophies Vernunft mahnte sie laut, sie seien im Begriff, in eine Falle zu laufen, aber der Strudel der Angst der kopflos fliehenden Männer riss sie mit in die Küche. Franek sank vor der Spüle zu Boden und schrie seinen Sohn auf Polnisch an, wobei er mit ärgerlichen Gesten auf Sophie wies. Nicholas antwortete mit kurzen, scharfen Worten und bedeutete dem alten Mann, ihr nicht zu nahe zu kommen. Er packte das Telefon, schlug mehrmals auf die Gabel, als er kein Freizeichen bekam, und gab seine Bemühungen dann auf, um den Tisch vor die Küchentür zu schieben.
    »Was tun Sie da?« Ihre Stimme zitterte vor Nervosität.
    »Das Telefon funktioniert nicht.«
    Sie wies zur Tür. »Ja, aber ich verstehe nicht, was hier vor sich geht. Warum stehen die Leute da draußen? Warum haben sie Ihren Vater beschimpft?«
    Wieder ein polnischer Wortschwall von Franek.
    »Was hat er gesagt?«
    »Dass jetzt zum Reden keine Zeit ist.« Nicholas hievte einen kleinen Mikrowellenherd auf den Tisch, um dem bescheidenen Hindernis mehr Gewicht zu geben. »Wir müssen die Barrikade verstärken.«
    Franek, der immer noch auf dem Boden hockte, sagte auf Englisch: »Das schützt uns bis Hilfe kommt, ja?«
    »Ich weiß es nicht.« Sie bemühte sich, ruhiger zu sprechen. »Warum sind die Leute da draußen? Warum funktioniert das Telefon nicht.«
    Nicholas antwortete mit einem unsicheren Achselzucken. »Ich nehme an, sie haben das Kabel durchtrennt.«
    »Warum?« Sie ergriff selbst den Hörer und drückte ihn ans Ohr. »Warum sollten sie das tun?«
    »Warum, warum, warum!«, rief der alte Mann auf dem Boden. »Sie fragen zu viel. Machen Sie sich lieber nützlich. Helfen Sie Milosz die Tür verbarrikadieren.«
    »Aber –« Sophie zwang sich zu überlegen. »Vielleicht sollte ich versuchen, mit ihnen zu reden? Wenn ich wieder ins Wohnzimmer gehe und durch das Fenster rufe, kann ich ihnen sagen, wer ich bin. Die meisten von ihnen kennen mich wahrscheinlich. Ich habe mehrere Patienten in der Humbert Street. Eine Patientin wohnt gleich nebenan. Vielleicht ist da draußen irgendwo ein Polizist.«
    »Nein.« Der dicke alte Mann drückte eine Hand auf seine Brust und holte geräuschvoll Atem. »Sie bleiben hier.« Er fügte ein paar polnische Worte hinzu.
    Sein Sohn erklärte mit einem resignierten Achselzucken. »Er hat Angst, dass er sterben muss.«
    »Da ist er nicht der Einzige«, konterte Sophie mit Feuer. »Und wenn Sie mich fragen, ist es keine Lösung, sich hier zu verstecken. Wenn die die Haustür aufbrechen, sind wir geliefert.«
    »Er sagt, er spürt, dass er gleich wieder einen

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