Der Nachbar
geklagt?«
»Nein.«
»Wann hat er den Inhalator zuletzt benutzt?«
»Als er noch etwas ruhiger war. Vor einer halben Stunde, schätze ich.«
»Bekommt er irgendwelche anderen Medikamente? Dämpfende oder beruhigende Mittel? Psychopharmaka gegen die Angstanfälle?«
Er schüttelte den Kopf.
Der alte Mann trug ein loses weißes Hemd, das jemand vernünftigerweise – vermutlich der Sohn –über zwei fleischigen, behaarten Brüsten aufgeknöpft hatte. Mit ironischen Gedanken an unangemessene Berührungen öffnete Sophie den Hosenbund des alten Mannes, um seinem Zwerchfell mehr Platz zu verschaffen, und drückte das Stethoskop in das lockige Haar auf seiner Brust. Es war, als versuchte man, einen Herzschlag direkt neben einem Pressluftbohrer zu orten. Das Einzige, was sie hörte, war das Röcheln und Pfeifen in seiner Kehle. Sie sah ihm in die angstvollen Augen und lächelte. »Wie heißt er mit Vornamen?«
»Franek. Er ist Pole.«
»Versteht er Englisch?«
»Ja.«
Sie legte beide Hände um den Unterkiefer des Mannes und massierte vorsichtig seinen Nacken, wobei sie tief durch die Nase atmete und Franek zu animieren versuchte, das Gleiche zu tun. Sie sprach leise mit ihm, während sie ihn weitermassierte, nannte ihn beim Namen, bemüht, seine Ängste zu stillen und ihm Vertrauen einzuflößen, und langsam, aber merklich ließ das hektische Nach-Luft-Schnappen nach, die Atemzüge wurden länger, und ein ruhigeres Muster stellte sich ein. Es war reine Pantomime, eine erlernte Technik, die den Patienten entspannen sollte, aber aus Mr Hollis' rechtem Auge quoll eine Träne, als hätte er in seinem Leben selten Freundlichkeit erfahren.
»Bei mir macht er nie so mit«, sagte sein Sohn mit Bitterkeit. »Er will immer nur einen Arzt. Ich nehme an, er vertraut mir nicht genug.«
Sophie sah ihn mit einem teilnehmenden Lächeln an, während sie den Trichter des Stethoskops zwischen ihren Händen erwärmte, ehe sie ihn auf das Herz des alten Mannes drückte. Mit Erleichterung lauschte sie dem ruhiger gewordenen Puls, dann setzte sie sich auf ihre Fersen zurück. »Es hat nichts damit zu tun, dass er kein Vertrauen zu Ihnen hat«, sagte sie, während sie zusah, wie der Patient in einen Schlaf der Erschöpfung fiel wie ein kleines Kind nach einem anstrengenden Wutanfall. »Aber er weiß, dass der Arzt noch über andere Möglichkeiten verfügt, wenn die Relaxation versagt.« Sie faltete das Stethoskop zusammen und packte es in den Koffer. »Hat er solche Attacken häufiger?«
»Nein, nur ab und zu. Normalerweise kommt er mit Hilfe des Inhalators gut zurecht, aber wenn er in Panik gerät...« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Da muss ich dann den Arzt holen.«
»Sie sagten vorhin, ein Gesicht am Fenster habe den Anfall ausgelöst«, bemerkte sie. »Wie kommt das? Hat er Angst vor Einbrechern?«
Er zögerte kurz, ehe er zustimmend den Kopf neigte.
Sophie stand vom Boden auf und warf einen verstohlenen Blick auf ihre Uhr. Sie musste spätestens um halb vier zu Hause sein, wenn sie um sechs in London sein wollte, um sich mit Bob zu treffen. »Ist bei Ihnen schon mal eingebrochen worden?«
»Nein, aber um ihm Angst zu machen, genügen Schatten. Und in der Gegend hier geht's ja ganz schön rau zu.«
Da musste Sophie ihm Recht geben. Nicht einmal ihr klappriges altes Auto war sicher, wenn sie gerade nicht drinnen saß. Bei Tag parkte sie vor den Häusern ihrer
Hallo-Freundschaft
-Patientinnen, weil sie hoffte, die alten Frauen würden aus Neugier am Fenster bleiben, um zu sehen, wen sie besuchte, und dabei gleichzeitig ihr Auto überwachen. Ihr heutiger Wachposten war Mrs Carthew – beginnender Altersschwachsinn und Arthritis deformans –, obwohl es in der Humbert Street, wo sich normalerweise Rudel halbwüchsiger Rabauken herumtrieben, heute ungewöhnlich ruhig gewesen war, so ruhig, dass sie versucht gewesen war, direkt vor dem Haus der Hollis' zu parken. Nur die aus Erfahrung geborene Vorsicht hatte sie davon abgehalten.
»Können wir uns irgendwo unterhalten, wo wir Ihren Vater nicht stören?«, fragte sie und griff zu ihrem Koffer. »Ich schreibe ihm für das Wochenende ein leichtes Beruhigungsmittel auf, aber Sie sollten auf jeden Fall am Montag mit ihm in die Sprechstunde kommen, damit wir die medikamentöse Behandlung besprechen können. Ich kann ihm außerdem einige Atemtechniken beibringen, die ihm vielleicht helfen werden.«
Der Sohn machte ein resigniertes Gesicht, als hätte er dies alles schon mehr
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