Der Nachbar
Samstagnachmittag aus dem Haus geholt hatte. Sein Vater leide an schwerer Atemnot, erklärte er mit einer Kopfbewegung zum Innern des Hauses. Er sprach sehr leise, beinahe flüsternd, so dass Sophie sich vorbeugen musste, um etwas von einem »Panikanfall« und »Asthmatikern, die sich aufführten wie hysterische Primadonnen« aufzuschnappen. Es war eine sehr abfällige Bemerkung, und Sophie vermutete, dass er flüsterte, damit sein Vater ihn nicht hörte.
Aus der sonnenüberfluteten Straße hinter ihr kreischte eine Kinderstimme: »Hey, du perverses Schwein! Fick dich doch selbst!« Aber solche Beschimpfungen waren in der Acid Row gang und gäbe, gerade aus dem Mund von Kindern, und Sophie ignorierte die Worte. Bis auf eine Handvoll junger Leute auf dem Bürgersteig gegenüber war die Straße bei ihrer Ankunft leer gewesen, und ihr ging es einzig darum, diesen letzten Besuch so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sie trat ins Haus und wartete darauf, dass hinter ihr das Türschloss einschnappen würde.
Der Mann sah ungesund blass aus in der dämmrigen Beleuchtung des Flurs, in dem sein Gesicht wie ein Mond im Halbdunkel hing. Sie mochte seinem Blick nicht begegnen und schaute den Flur hinunter und bemerkte daher nicht, wie er sie musterte. Er fand sie so klein und zierlich wie ein Mädchen in der Vorpubertät und wich zur Tür zurück, ängstlich bemüht, jede Berührung zu vermeiden. Warum hatten sie eine Frau geschickt? Sie stand mit dem Rücken zu ihm, in der Erwartung, dass er ihr den Weg zum Zimmer seines Vaters zeigen würde, aber der Anblick ihrer schmalen Hüften und des dicken, glänzenden Zopfs, der zwischen ihren Schulterblättern herabhing, hatten ihn stumm gemacht. Man hätte sie leicht für ein Kind halten können, wären nicht ihre selbstsichere Haltung und der reife Ausdruck ihrer Augen gewesen, als sie sich ungeduldig nach ihm umdrehte und ihn bat, ihr vorauszugehen.
»Sie sind neu«, sagte sie. »Ich weiß nicht, welches das Zimmer Ihres Vaters ist.«
Er öffnete eine Tür auf der rechten Seite, zu einem Raum, in dem die Vorhänge geschlossen waren und eine Tischlampe nur spärliches Licht spendete. Die Luft stank nach den Ausdünstungen des übergewichtigen alten Mannes, der um Atem ringend auf dem Sofa lag, keuchend vor angestrengtem Bemühen, Luft zu holen, die Augen weit aufgerissen in seiner Angst, dass der nächste Atemzug sein Letzter sein würde.
Du lieber Gott! dachte Sophie gereizt. War der Sohn nicht ganz bei Trost? Oder war er ein Vatermörder? Man brauchte weiß Gott kein Einstein zu sein, um sich denken zu können, dass es einem Asthmatiker nicht gut tat, in einen Raum eingesperrt zu werden, in dem es so stickig und heiß war wie in einem Backofen.
Sie kauerte vor dem Sofa nieder. »Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, Mr Hollis«, sagte sie aufmunternd, während sie ihren Koffer auf den Boden legte und öffnete. »Ich bin Dr. Sophie Morrison. Es wird Ihnen gleich wieder besser gehen.« Sie wollte ihm die Angst nehmen und in dieser unnatürlichen Situation ein Gefühl von Normalität vermitteln. Mit einer brüsken Geste bedeutete sie dem Sohn, die Vorhänge zu öffnen. »Ich brauche mehr Licht, Mr Hollis. Und vielleicht könnten Sie die Fenster aufmachen und etwas frische Luft hereinlassen.«
Der Vater hob in ängstlichem Protest die Hand.
»Er mag es nicht, wenn die Leute zum Fenster hereinsehen«, erklärte der Sohn und knipste die Deckenlampe an. »Dadurch ist es ja zu diesem Anfall gekommen... Er hat ein Gesicht am Fenster gesehen.« Der Mann sprach zögernd, als sei er unsicher, wie viel er die Ärztin wissen lassen sollte. »Er hat einen Inhalator.« Er wies auf ein blaues Plastikröhrchen in der Faust seines Vaters. »Aber er nützt überhaupt nichts, wenn er in so einem Zustand ist. Er kann den Atem nicht so lange anhalten, dass die Medikamente wirken.« Trotz des Gestanks, den der ungewaschene Körper seines Vaters verströmte, konnte er den Duft ihrer Haut riechen. Aprikosen, dachte er.
»Wie lange geht das schon so?«, erkundigte sich Sophie und berührte das Gesicht des alten Mannes. Trotz der Hitze im Zimmer war die Haut klamm und kalt, und sie kniete neben dem Sofa nieder, um ihr Stethoskop aus dem Koffer zu holen.
»Seit ungefähr einer Stunde. Mit Unterbrechungen. Er hatte sich gerade wieder etwas beruhigt, als draußen die Kinder zu brüllen anfingen –« Er brach ab.
»Hat er über Schmerzen in der Brust oder seinem linken Arm
Weitere Kostenlose Bücher