Der Nachbar
»Drecksau... Ficker... Perverser...« Wie groß war die Gefahr, die von ihm ausging? Glaubte er, wenn er sie vergewaltigte, würde sie nicht den Mut zu einem Fluchtversuch finden? Konnte er damit Recht haben? Was würde werden, wenn aus den Minuten des Wartens Stunden wurden? Fragen, Fragen, Fragen...
Sie wünschte jetzt, sie hätte die Barrikade nicht so eng um sich gezogen, dass sie sich kaum rühren und nur entspannen konnte, indem sie abwechselnd die eine und die andere Schulter an die Wand lehnte. Sie bemühte sich, ihre Bewegungen auf ein Minimum zu beschränken, weil sie sah, dass er mit jedem Mal, da die Seide ihres Tops über ihrem Busen spannte, erregter wurde, aber sie begann müde zu werden, und ihr Magen flatterte umso stärker, je heftiger ihre Unschlüssigkeit sie quälte. Unter seinem saugenden Blick – eine ekelhafte Perversion des bewundernden Blicks eines normalen Mannes – fühlte sie sich schmutzig und schuldig und verschränkte die Arme vor ihrer Brust in dem vergeblichen Bemühen, sich zu bedecken.
Sie hätte nie ein ärmelloses Top anziehen dürfen... sie zeigte zu viel Haut...
Melanie irrte sich... er konnte unmöglich ein Pädophiler sein... niemals würde er sie so ansehen, wenn er pädophil wäre...
Die Stille im Zimmer war unerträglich. Ebenso die Hitze. Der Geruch der Körperausdünstungen des alten Mannes setzte ihr zu und rief einen Brechreiz hervor.
Sie zwang sich zu sprechen. »Irgendetwas stimmt da nicht«, sagte sie krächzend, weil ihr Hals wie ausgedörrt war.
Nicholas warf einen nervösen Blick zum Fenster. »Was denn?«
»Wir müssten längst Sirenen hören.«
Er war offenbar der gleichen Meinung. Sie sah den Adamsapfel heftig hüpfen, als er schluckte. »Vielleicht hat es niemand für nötig gehalten, die Polizei zu alarmieren.«
Sophie versuchte, den Innenraum ihres Mundes mit der Zunge zu befeuchten. »Und warum nicht?«, erkundigte sie sich in ruhigerem Ton.
Nicholas sah seinen Vater an, aber der alte Mann hielt seinen Blick weiterhin unverwandt auf Sophie gerichtet und war nicht bereit, sich zu einer Erklärung verleiten zu lassen.
»Sie mögen uns nicht«, sagte Nicholas.
»Das habe ich mir fast gedacht«, versetzte sie mit Ironie.
Er antwortete nicht.
»Ich mag meine Nachbarn auch nicht besonders«, bemerkte sie, verzweifelt bemüht, ein Gespräch in Gang zu halten, »aber ich würde bestimmt nicht untätig zusehen, wenn die Leute mit Steinen auf sie werfen würden.«
»Es wäre nie soweit gekommen, wenn sie einen Krankenwagen geschickt hätten. Mein Vater und ich hätten das Haus verlassen können, und keiner von uns wäre jetzt in Gefahr.«
»Wussten Sie denn, dass so etwas geschehen würde?«
Er antwortete mit einem kleinen Achselzucken, das sie auslegen konnte, wie sie wollte.
»Warum haben Sie nicht die Polizei angerufen?«
»Das habe ich doch getan«, erwiderte er niedergeschlagen. »Mehrmals sogar. Aber sie sind nie gekommen.«
»Und daraufhin haben Sie in der Praxis angerufen?«
Er nickte. »Ich habe extra gesagt, sie sollen keine Frau schicken – aber es hat mir offensichtlich keiner zugehört.«
»Sie erklärten, es sei ein Notfall«, erinnerte sie ihn, »und der nächste männliche Kollege war zwanzig Minuten entfernt.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Was hätte ein Mann denn besser machen können als eine Frau?«
»Gar nichts. Ich wollte ganz einfach keine Frau hier haben. Jedenfalls nicht so eine wie sie.« Er machte eine mutlose Handbewegung. »Aber jetzt ist es zu spät... ich kann es nicht ändern.«
O Gott! Die Angst krampfte ihr den Magen zusammen. Was wollte er ihr sagen? Warum wollte er keine Frau hier haben. Wegen des Aufruhrs auf der Straße? Wegen seines Vaters? Der Instinkt sagte ihr, dass es um seinen Vater ging. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, überlief es sie eiskalt. Er erinnerte sie an eine Kloakenratte – unberechenbar, bösartig, Träger von Krankheiten, böse und widerlich. Sie versuchte, sich einzureden, das wäre nur eine Reaktion auf die Art und Weise, wie er sie bedrängt hatte, aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Er machte ihr Angst, weil sie keinen Einfluss auf ihn hatte – und ebenso wenig, vermutete sie, sein unnatürlich gefügiger Sohn...
Vor dem Haus Humbert Street 23
Melanie drückte zum zehnten Mal innerhalb der letzten fünf Minuten auf den Wiederholungsknopf ihres Handys und lauschte der Computerstimme, die sie aufforderte, eine Nachricht auf Jimmys Mailbox zu hinterlassen.
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher