Der Nachbar
und tretend schaffte, drei weitere Ziegelsteine aus dem Mäuerchen zu brechen. »Gut gemacht, Wes.«
Melanie roch das Bier im Atem ihres Bruders und sah den irren Blick in Wesleys Augen, der auf Speed oder Schlimmeres schlie ßen ließ. Verzweifelt sah sie sich nach Gaynor um. Nie hätte sie geglaubt, dass der friedliche Protestmarsch von Müttern und Kindern, den sie geplant hatte, so ausarten würde. Die Mütter, die nicht in der Humbert Street wohnten, waren ausgestiegen, als der Zug das Ende der Glebe Road erreichte und sie die Straßensperre in der Bassindale Row sahen. Es werde ganz sicher zu Gewalt kommen, warnten sie erschrocken und nahmen ihre Kleinen bei den Händen, um mit ihnen nach Hause zu gehen. Gaynor war den Frauen nachgelaufen, weil sie versuchen wollte, sie zur Rückkehr zu bewegen, und seitdem hatte Melanie sie nicht mehr gesehen.
Wo kann sie nur sein? überlegte sie verzweifelt. Hatte ihre Mutter sie etwa auch im Stich gelassen? Bei dem Gedanken geriet sie beinahe in Panik. Und Rosie und Ben, was war mit denen? Sie hatte sie zum Sammelplatz vor der Glebe School mitgenommen – Ben im Buggy, Rosie zu Fuß–, aber als der Demonstrationszug zur Humbert Street gelangte, ging alles drunter und drüber, und sie hatte die Kinder ins Haus gebracht und ihnen gesagt, sie sollten sich vor den Fernseher setzen, bis es draußen wieder ruhiger geworden sei. Die versammelte Menschenmenge wurde von Minute zu Minute größer und ungebärdiger, und ihr Häuschen war direkt neben der Nummer 23. Wenn jetzt besoffene Idioten wie Colin anfingen, mit Ziegelsteinen zu schmeißen...
Sie schlug ihm mit der Faust auf den Arm. »Ihr macht Rosie Angst«, schrie sie ihn zornig an, als sie am Fenster das kleine weiße Gesicht ihrer Tochter erkannte. »Ich hab sie und Ben ins Haus bringen müssen, weil's hier draußen zu gefährlich geworden war.«
Erschrocken richtete er den Blick auf das Fenster. »Mensch, Mel! Ich dachte, die Kinder wären bei uns. Mum hat gesagt, dass Bryan nach ihnen schaut. Wieso hast du sie zu so was mitgeschleppt?«
Sie zog unglücklich die Schultern hoch und ließ sie wieder herabfallen. »Alle sind mit ihren Kindern gekommen. Wir wollten doch die Gemeinde in Verlegenheit bringen. Aber dann sind die anderen alle abgehauen... und Mum ist spurlos verschwunden. Ich hab sie überall gesucht.«
»Du bist echt eine so blöde Kuh«, sagte er vernichtend, während er die Menschenmasse musterte, die beide Enden der Straße verstopfte. »Durch dieses Gewühl kriegst du sie doch nie durch. Das sind doch lauter Arschlöcher. Da braucht nur eine von euch zu stolpern, und ihr werdet alle totgetrampelt.«
Ihr kamen die Tränen. »Ich hab doch keine Ahnung gehabt, dass es so wird. Es sollte ein Protestmarsch sein.«
»Du hast das Ganze ins Rollen gebracht«, entgegnete er. »Raus mit den Kinderschändern, hast du gesagt.«
»Aber doch nicht so«, protestierte sie. »Es ist alles total aus dem Ruder gelaufen.« Sie umklammerte seinen Arm. »Was soll ich jetzt tun, Col? Ich bring mich um, wenn meinen Kindern was passiert.«
Die Angst in ihrem Gesicht ernüchterte ihn. »Sieh zu, dass du Jimmy findest«, riet er. »Der ist groß und stark. Der wird's schon schaffen, euch hier rauszubringen, ohne dass euch was passiert.«
Im Haus Humbert Street 23
Sophie stand regungslos in ihrer Ecke und lauschte. Es waren keine Geräusche splitternden Glases mehr zu hören, und sie vermutete, dass das Klirren zuvor nur den Einbruch der Reste des Wohnzimmerfensters begleitet hatte. Mit einem schnellen Blick auf ihre Uhr stellte sie fest, dass gut dreißig Minuten vergangen waren, seit der Stein sie getroffen und zehn seit sie Jenny angerufen hatte, aber bisher war nichts weiter zu hören, als das unablässige gedämpfte Grollen der Menge draußen auf der Straße.
Keine Polizeisirenen. Keine barschen Stimmen, die über Lautsprecher Befehle brüllten. Keine Angstschreie. Kein Füßetrampeln flüchtender Randalierer.
Ihr Hirn war ausgepowert von den endlos kreisenden Gedanken, und sie beobachtete die Männer unter gesenkten Lidern hervor. Nicholas starrte auf seine Uhr, als wunderte auch er sich, wo die Polizei blieb, Franek jedoch hatte nur Augen für sie. Was wollte er von ihr?
Sie sorgen dafür, dass uns nichts passiert, bis die Polizei kommt...
War sie eine Geisel? War sie ein Opfer? War sie beides? Kümmerte es Franek auch nur im Geringsten, wie es ihr ging, solange ihre Anwesenheit ihn vor der wütenden Menge schützte?
Weitere Kostenlose Bücher