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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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versteh das nicht«, sagte sie zu ihrem Bruder. »Er spricht nie so lang.«
    »Dann hat er's wahrscheinlich nicht mit.«
    Sie holte gereizt Luft. Sie drehten sich im Kreis. »Ich sag dir doch – ich hab gesehen, wie er's eingesteckt hat«, wiederholte sie.
    Er zuckte mit den Schultern. »Dann hat er's eben abgeschaltet.«
    »Das würde er nie tun, wenn er mitten in Geschäften steckt.«
    »Dann hat's ihm jemand geklaut und labert jetzt an seiner Stelle.«
    Sie wurde wütend. »Wie oft muss ich es dir noch sagen?«, fuhr sie ihn an. »Jimmy wird nichts geklaut. Da ist irgendwas Schlimmes passiert. Warum versuchst du nicht, das in deinen dicken Schädel reinzukriegen, anstatt mir einen Haufen Blödsinn zu erzählen?«
    Der Ausbruch lieferte Colin den Vorwand, auf den er gewartet hatte. Es machte überhaupt keinen Spaß, mit seiner Schwester zusammenzusein, sie hielt ihm ja ständig nur Vorträge, und er hatte weit mehr Bock auf seine Kumpel als auf die unerwünschte Verantwortung für Nichte und Neffen. Er hielt ihr einen Finger unter die Nase. »Vielleicht irrst du dich ja auch manchmal«, sagte er. »Wenn es nicht geklaut ist, wenn er's nicht zu Hause liegen gelassen hat, wenn er's nicht ausgeschaltet hat, wenn er's nicht verloren hat – dann muss er ja wohl mit jemand quaken.« Er wandte sich ab. »Aber ich hab jetzt echt die Schnauze voll, Mel. Es ist dein Problem – sieh selber zu, wie du damit klarkommst.«
Im Haus Humbert Street 23
    Der alte Mann konnte Sophies Gedanken lesen. »Sie glauben, ich habe die Panikattacke nur vorgetäuscht, um Sie hier festzuhalten«, sagte er unvermittelt. »Und Sie sind wütend, weil Sie sich haben täuschen lassen. Vielleicht sind Sie gar nicht so eine tolle Ärztin.«
    Sie zwang sich, ihn anzusehen. »Und – haben Sie mich getäuscht?«
    Seine Augen glitzerten boshaft. »So schlau wie Sie sind, werden Sie das ja wohl selbst herausbekommen, kleine Dame.«
    Sie quittierte seine Bemerkung mit einem Achselzucken wie um zu zeigen, dass seine Einschüchterungsversuche keine Wirkung auf sie hatten. »Das habe ich schon. Sie haben vielleicht ein wenig übertrieben, aber das was ich gesehen haben, war größtenteils echt. Sie sind zweifellos Asthmatiker. Sie haben im Moment Atembeschwerden – schon seit Sie den Schrank herumgeschoben haben.« Sie lächelte dünn. »Sie sollten Ihren Inhalator benutzen, bevor es schlimmer wird, Mr Hollis.«
    Sie sah zu, wie er sich auf die Hosentaschen klopfte, und erlaubte sich einen Moment der Schadenfreude, als sie seinen Blick nervös zur Tür huschen sah. Es war ein kleiner Triumph – sein Sohn hatte ihn so überstürzt aus dem Wohnzimmer hinausbefördert, dass er nicht an den Inhalator gedacht hatte –, aber es war gleichzeitig ein großer Schritt, ein Stück Kontrolle zurückzuerobern. »Sie werden feststellen, dass Sie ihn unten liegen gelassen haben«, sagte sie.
    »Und wenn schon. Ich komme auch ohne zurecht.«
    »Wenn Sie meinen.«
    Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust. »Kerngesund. Mir fehlt nichts. Sie wollen mir nur Angst einjagen.«
    Da hast du verdammt Recht, Mann! »Das brauche ich gar nicht.« Mit einer ruckhaften Bewegung drehte sie den Kopf zur Straßenseite des Hauses. »Was glauben Sie, wird passieren, wenn hier eine halbe Tonne wütender Männer zur Tür reinstürzt? Sie werden vor lauter Angst an Atemstillstand krepieren.«
    Er lachte kurz auf, als amüsierte ihn ihre Aufmüpfigkeit. »Wenn das passiert, werden Sie mir helfen«, entgegnete er. »Das ist Ihre Aufgabe. Sie haben den Hippokrateseid geschworen.«
    Sophie schüttelte den Kopf.
    »Dann bring ich Sie vor Gericht... verklag Sie wegen unterlassener Hilfeleistung.« Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Sie verlieren Ihre Zulassung, und ich kriege einen Sack voll Geld.«
    »Dazu wird es nicht kommen«, erklärte sie.
    »Wieso nicht?«
    »Sobald ich auf der Treppe Schritte höre, schreie ich ‘Vergewaltigung’. Wenn es die Polizei ist, gehen Sie in den Knast. Wenn es Ihre Nachbar sind, machen sie Kleinholz aus Ihnen.«
    »Wenn Sie das wagen, brech ich Ihnen das Genick. Ganz einfach so.« Er verdrehte imaginäre Wirbel mit seinen muskulösen Fingern.
    Nicholas trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Muss das sein?«
    Sein Vater achtete nicht auf ihn.
    »Wir wissen nicht, wie lange wir hier festsitzen werden«, wandte sich Nicholas an Sophie. »Sollten wir nicht versuchen, miteinander auszukommen?«
    Die Stimme der Vernunft, dachte sie.

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