Der Nachbar
»Dann lassen Sie mich für Sie verhandeln. Das ist weit vernünftiger, als sich hier in diesem Backofen zu verschanzen und langsam zu verdursten. Wir haben kein Wasser«, sagte sie.
»Es wird nicht so lange dauern. Die Polizei wird bald hier sein. Bis dahin können wir doch versuchen, freundschaftlich miteinander umzugehen.«
Freundschaftlich? War er genauso verrückt wie sein Vater? »Ihr Vater hat gedroht, mich umzubringen.«
»Und Sie haben gedroht, ihn zu Kleinholz machen zu lassen«, konterte er. »Ich nehme Ihnen das gar nicht übel – Sie haben Angst – wir haben alle Angst. Ich verstehe nur nicht, was es bringen soll. Es wäre besser, wir hielten den Mund, anstatt unentwegt zu sticheln. Dann können wir wenigstens hören, was draußen vor sich geht.«
Sie war versucht, ihm zuzustimmen, weil sie von Natur aus eine friedfertige Person war. Außerdem lechzte sie danach, sich niederzusetzen und nicht ständig auf dem Quivive sein zu müssen. Vielleicht erkannte er die Unschlüssigkeit in ihrem Gesicht, denn er griff nach einem der Stühle und wollte ihn wegziehen.
»Nein!«, rief sie scharf und schlang ihre Hand um die Lehne.
»Hier draußen hätten Sie es viel bequemer«, sagte er ihr gut zuredend.
Es war eine große Verlockung, das war auch Franek klar, der seinem Sohn beifällig auf die Schulter klopfte. Bei Sophie wurden sogleich die wildesten Vermutungen wach. War Nicholas der Zuhälter seines Vaters? War dies eine Variation der Nummer vom bösen und vom netten Bullen? War der Sohn der Verführer? Erklärte das seine Gefügigkeit? Mitten im Tumult ihrer Phantasien sagte der gesunde Menschenverstand ihr, dass es umgekehrt sein musste.
Der Kunde mit dem finsteren Geheimnis ist der Anfällige... die Macht liegt beim Zuhälter, der den anderen in der Hand hat...
»Ich bleibe lieber, wo ich bin«, sagte sie.
Er drängte nicht. »Okay«, stimmte er zu und zog seine Hand weg. »Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie es sich anders überlegen.«
»Das passiert bestimmt nicht.«
»Bilden Sie sich nur ja nicht ein, dass Sie so stark sind«, sagte Franek. »Sie werden schon bald umkippen – bum! –« Er hieb mit einer Hand abwärts durch die Luft –»und dann schläft Ihr Verstand ein, und ich bestimme, was geschieht.«
Sie sagte nichts.
Er musterte sie mit laszivem Blick und grinste, als sie wieder den abgewinkelten Arm über ihre Brust drückte.
»Jetzt haben
Sie
Angst«, höhnte er.
Es stimmte. Wie er jedes Mal zu wissen schien, was in ihr vorging, das war unerträglich. Es war, als wüsste er genau, welchen Knopf er drücken musste, um eine Frau in Angst zu versetzen, und als könnte er ihr vom Gesicht ablesen, welches ihre empfindlichen Punkte waren. Es war eine Invasion. Ein brutaler Angriff auf Mut und Entschlossenheit, der sie mit sich selbst in Streit darüber stürzte, ob sie ihm trotzen oder durch Schweigen zu beschwichtigen suchen sollte. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, mit der Zunge ihre Lippen zu befeuchten, die ganz ausgetrocknet waren, aber sie versagte es sich. Er würde das nur als ein weiteres Zeichen der Angst auffassen...
Die Erkenntnis zuckte wie ein Blitz in ihre Gedanken.
Angst erregte ihn!
Du lieber Gott, wie hatte sie nur so begriffsstutzig sein können! Über Typen wie ihn waren Bücher geschrieben worden. Sie hatte sogar noch die Definition in ihrem medizinischen Lexikon im Kopf. ‘Sadismus – Erzeugung und Befriedigung sexueller Lust durch Quälen anderer, insbesondere in Form von Erniedrigung und Folter.’
Nicht der Anblick ihres Busens erregte ihn, sondern das Schuldgefühl, das er jedes Mal, wenn sie ihn bedeckte, in ihrem Gesicht erkannte. Nicht den Druck seines erigierten Glieds an ihrem Gesäß erinnerte er, sondern das Entsetzen, mit dem sie sich seinen ekelhaften Geschmack von den Lippen gewischt hatte. Dieser widerliche kleine Wichser holte sich seinen Kick, indem er sie zu erniedrigen suchte.
Sie sind doch keine so tolle Ärztin...
Sie musste ihm die Stirn bieten. Ogottogott! War das aber auch wirklich das Richtige? Wenn nur Bob hier gewesen wäre. Er hätte gewusst, was das Richtige war. Er kannte sich mit solchen Typen aus. Er behandelte sie. Bei dem Gedanken an den Geliebten schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie waren miteinander verabredet, und er würde nicht einmal wissen, warum sie ihn versetzte.
Tu es! Sie befeuchtete ihre Lippen und senkte die Hände zur Stuhllehne. Franek scharf fixierend, sagte sie: »Erzählen Sie mir von Nicholas'
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